Es ist gar nicht lange her, da steckte die Klavierindustrie in einer der schwersten Krisen ihrer Geschichte. Der Absatz war zwar schon seit zig Jahren rückläufig gewesen – vor dem Ersten Weltkrieg bauten deutsche Firmen noch 200.000 Klaviere im Jahr, 1994 waren es nur noch 40.000 –, doch die Finanzkrise von 2008 traf die Hersteller existenziell. Nicht nur kleinere Fabriken wie die Leipziger Pianoforte verschwanden vom Markt, auch Deutschlands größter Klavierhersteller Schimmel meldete Planinsolvenz an und entließ Mitarbeiter. Selbst der Umsatz des profitabelsten Klavier- und Flügelbauers der Welt, Steinway, brach zwischen 2007 und 2012 um 13 Prozent ein. Im Jahr 2009 wurden in Deutschland nur noch etwa 11.000 Instrumente gebaut.
Was ist seitdem geschehen? Der Absatz der deutschen Hersteller ist im Vergleich mit dem Niveau von 2008 weiter gesunken. Das sagt Christian Blüthner-Haessler, Vorsitzender des Bundesverbands Klavier (BVK) am Telefon, der die Statistiken des letzten und vorletzten Jahres hervorgekramt hat. Der Markt, sagt er, sei gesättigt mit soliden und guten Klavieren und Flügeln von vor 20 oder 50 oder mehr Jahren. Und das betrifft nicht nur die Klavierbauer: Die gesamte Produktion von Musikinstrumenten lasse in Deutschland immer weiter nach, so das Fazit nach der diesjährigen Musikmesse Frankfurt. Es gebe von Jahr zu Jahr weniger Aussteller. 2017 verkauften die deutschen Klavierbauer nur noch 1.900 Flügel und 3.900 Klaviere, so die Zahlen des BVK – ein winziger Bruchteil dessen, was weltweit produziert wird (allein aus China kommen jedes Jahr 220.000 Instrumente). Doch sei die Qualität der europäischen Instrumente außerordentlich, „die oberste Sahne in der Klavierhierarchie“, sagt Blüthner-Haessler – und die Entwicklung habe sich nach diesem „enormen Schrumpfungsprozess im letzten Jahrzehnt“ nun endlich stabilisiert. 2018 habe es sogar ein Wachstum von drei bis vier Prozent gegeben. „Das Niveau wird sich konsolidieren“, glaubt Blüthner-Haessler. „Ich hoffe, dass ich Recht behalte.“
Ebay-Schnäppchen für Selbstabholer
Die Klavierindustrie hat es schon lange nicht mehr leicht. Spätestens, seit in jedem Haushalt technische Geräte stehen, es Fernseher, CD-Player, Radio und Tablets gibt und die Möglichkeit, alles zu streamen, was man streamen kann – spätestens eigentlich seit dem Durchbruch des Farbfernsehers ist sie eine Nischenindustrie. Was in den 70ern der gerade aufkommende „Tatort“ war und was heute Netflix ist oder der Spotify-Musikstream – das war früher wohl, vereinfacht gesagt, das Klavier: Die Abendunterhaltung. Musik. Beisammensein. Alte Erbstücke stehen mittlerweile aber eher schief und vergessen in den Kellern und Flurdurchgängen der Einfamilienhäuser, dienen als Regalersatz oder gar nicht mehr. Bei eBay Kleinanzeigen werden derzeit wohl genauso viele alte Klaviere verschenkt wie für ein paar Hundert Euro verscherbelt. „Funktioniert gut“, kann man da lesen, „müsste mal gestimmt werden“, „nur an Selbstabholer.“
Der BVK zählt neben Zulieferern und Servicebetrieben vierzehn Hersteller zu seinen Mitgliedern, zehn davon haben ihren Sitz in Deutschland. Er ist, wie es auf der Webseite heißt, die „weltweit einzige Organisation, deren Mitglieder gemeinsam auf so lange und reichhaltige Traditionen in der Herstellung von Flügeln und Klavieren zurückblicken können“. Mitglieds-Firmen wie Sauter, Steingraeber und Söhne, die Wiener Firma Bösendorfer, Blüthner oder Grotrian-Steinweg wurden vor rund 150 bis 200 Jahren gegründet – und produzieren nach wie vor.
Ihre Instrumente sind von solcher Haltbarkeit, dass einige von ihnen auch noch im hohen Alter von über 100 Jahren im Einsatz sind. „Wir bekommen Anfragen von Leuten, die noch Instrumente aus dem 19. Jahrhundert besitzen“, sagt Gregor Willmes von der Firma C. Bechstein. „Wir schauen dann in die Archivbücher, die bis 1853 zurückgehen, um die Herkunft genau zu klären.“ Doch so beeindruckend es auch sein mag, die lange Lebensdauer ist ein Problem: „Die Instrumente halten zu lang“, sagt er – und ihm pflichten alle Hersteller bei, die für diese Recherche kontaktiert wurden. „Die gute Qualität könnte auch unser Killer sein“, sagt Sabine Höpermann, Head of PR and Communications bei Steinway in Hamburg. „Wenn Sie zu einem unserer Händler gehen und dort einen Flügel kaufen, dann sieht der Sie nie wieder, Ihre Kinder nicht, und auch Ihre Enkelkinder nicht.“
Der Markt schrumpft konstant. Und trotzdem schaffen es die verbliebenen Firmen, ihre Verkäufe auf dem vom BVK verzeichneten niedrigen, aber bleibenden Niveau zu halten oder gar minimal zu steigern. So entwickelte die amerikanische Firma Steinway mit dem 2016 vorgestellten selbstspielenden „Spirio“ einen Verkaufsschlager, der mittlerweile fast 40 Prozent der gesamten Produktion ausmacht. Bechstein verkaufte 2018 über 400 Instrumente mehr als noch 2011.
Das Wiener Unternehmen Bösendorfer verzeichnet seit 2014/15 „stetige Gewinne“ und 2017/18 einen Umsatz von 12,6 Millionen Euro. Sogar Schimmel hat sich wieder berappelt und verkauft mittlerweile wieder 1.800 Klaviere und 700 Flügel, von denen Letztere, so Lothar Kiesche vom Marketing, in den vergangenen Jahren zunehmend stärker nachgefragt würden. Der Trick sind neue Märkte: China, Nicht-Klavierspieler, neue Läden, viel Export – und das sind nur wenige Beispiele. Die Hälfte aller in Deutschland gefertigten Klaviere gehen mittlerweile ins Ausland, denn Europa ist nach wie vor ein schwieriger Markt. Um zumindest den günstiger hergestellten Instrumenten von Übersee etwas entgegen halten zu können, hat der BVK 2014 das Siegel „Made in Germany“ eingeführt, und mit ihm ziemlich strenge Kriterien. Qualität versus Schnäppchen also. So oder so: Die Importquote in der EU ist stark gesunken.
Zwischen all diesen Zahlen und Quoten, im Gespräch mit Klavierbauern und Restauratoren kristallisiert sich aber noch mehr heraus: eine Tendenz, die die Strukturen der Industrie wirklich verändern könnte. Denn immer mehr Hochschulen und Konzertveranstalter, besonders aber junge aufstrebende Pianisten, beginnen sich mehr und mehr für andere Modelle als den obligatorischen Steinway zu interessieren. „Die Kollegen aus Hamburg“, wie man sie häufig nennt, machten selbstverständlich gute Arbeit – die Instrumente seien hervorragend, da ist man sich einig. Doch ist auch die Rede von „Mono-Klangkultur“, „Imperium“ und einer „Beherrschung“ der Konzertsäle – und im Interesse der Kultur und Kunst oder einer umfassenden Pianistenausbildung sei die „Monopolisierung auf den Konzertpodien“ nicht, so Blüthner-Haessler. Das Marktsegment, in dem Steinway sitzt, das der Spitzen-Konzertsäle, der Hochschulen, der Aufstrebenden und der Star-Pianisten, es war schon immer begehrt – und es scheint sich zu öffnen.
C. Bechstein verkaufte im Frühjahr einen Flügel an die Hochschule Detmold und zwei an das Royal College in London, vergangenes Jahr jeweils zwei Flügel an das Mozarteum und die Kronberg Academy. Auch Bösendorfer-Instrumente werden zunehmend von Hochschulen in Betracht gezogen. Außerdem interessieren sich der eigenen Angabe nach „immer mehr Festivals“ für Steingraeber-Instrumente. Mittlerweile, so Blüthner-Haessler, gebe es unter den Hochschulen „kaum noch ein nennenswertes Institut, das sich auf die Steinway-Instrumente versteift“.
Die Steinway-Kettenreaktion
„Es wäre schön, wenn es noch mehr Vielfalt gäbe“, sagt auch Lothar Kiesche von Schimmel. Dass, wie Steinway vergangenes Jahr bei einer Umfrage unter 29 Ensembles erhob, 94 Prozent der Konzertsolisten bei diesen „bedeutendsten Orchestern dieser Welt Steinway wählten“, habe in erster Linie wohl eine Art Kettenreaktion als Grund: Wer auf einem Steinway ausgebildet wurde, um später auf Steinway besonders gut spielen zu können, weil in den Konzertsälen dieser Welt vor allem Steinway-Flügel stehen, würde sich mit der Vorliebe für ein anderes Instrument aus der Komfortzone herausbewegen. Das ist nachvollziehbar: Pianisten sind schließlich die Instrumentalisten (zusammen mit Organisten), die ihr Instrument – von wenigen Ausnahmen einmal abgesehen – nicht mit auf Reisen nehmen. Wenn es dann zumindest ein Instrument oder eine Serie gibt, die sich unter den Fingern und im Ohr bekannt und vertraut anfühlt, ist das eine große Sicherheit – vor allem, wenn 1.500 Menschen im Saal sitzen und konzentriert zuhören werden.
Lange Zeit, so der Eindruck von Oliver Greinus von der Hamburger Restaurierungswerksatt Klangmanufaktur, hätten entsprechend auch viele Fabrikate der anderen Hersteller ausgesehen und sich gespielt wie Steinway-Flügel. Lothar Kiesche von Schimmel bestätigt das aus seiner Sicht: Lange Zeit sei es so gewesen, dass „wenn Sie etwas vorgestellt haben, was keine exakte Steinway-Kopie war, es nicht galt“. „Ein ganz großes Problem bei den Herstellern war, dass sie quasi keine eigene Identität mehr hatten“, sagt Greinus. „Ganz viele haben ganz lange den Fehler gemacht, genau dasselbe machen zu wollen wie Steinway, weil Steinway so erfolgreich ist.“ Greinus selbst arbeitete lange bei Steinway, leitete die Konstruktionsabteilung, und eröffnete nach seinem Ausscheiden aus der Firma seine Manufaktur. Monatlich werden hier im Schnitt drei Flügel, die alt sind oder aus anderen Gründen überholungsbedürftig, auseinander genommen und von Grund auf überholt, vom Resonanzboden und der gesamten akustischen Anlage über die Mechanik bis hin zur Intonation. Was Greinus und seine Kollegen in ihrem Leben schon an Flügel-Innenleben gesehen und überarbeitet haben, lässt sie die Schlüsse ziehen, die vielleicht nur freie Klavierbauer ziehen können, die keiner Marke oder Firma mehr verpflichtet sind. „Viele Hersteller sind ganz stark auf dem Traditionsgedanken herumgeritten, ohne wirklich innovativ zu sein“, sagt er. „Man baute die Instrumente, wie sie schon immer gebaut wurden.“
Eigentlich, das schwingt mit, hätte man schon vor Jahren in der Konstruktion von Klavieren und Flügeln sehr viel fortschrittlicher sein können. Man hätte in Kooperation mit anderen Instrumentenbauern, Musikwissenschaftlern, Künstlern und Ingenieuren Instrumente entwickeln können, an die „ein Pianist sofort andocken kann“ – und zwar unabhängig von der Marke. Für dieses „Andocken“ werden in der Klangmanufaktur klare Kriterien angelegt: größtmögliche Schnelligkeit im Einschwingverhalten, Klarheit, Offenheit, Balance im Klang, außerdem Farbenvielfalt und ein großes dynamisches Spektrum. Um solche Instrumente zu bauen, die schnell auf den Pianisten reagieren, sich in kürzestmöglicher Zeit einschwingen, müsse man in erster Linie am akustischen System arbeiten, es sehr viel feiner und genauer ausarbeiten und alle Komponenten präzise aufeinander abstimmen – so Oliver Greinus’ Erfahrung. Die Philosophie: Es ist der Flügel, der der Welt sagt, ob sie ihn braucht oder nicht. Wären die Instrumente individueller und klanglich besser, so der Schluss, müsse man sich als Hersteller wohl insgesamt weniger Sorgen machen. Allein es dauert, neue Instrumente zu entwickeln, und erst recht, bis diese neuen Instrumente auf dem Markt sichtbar sind.
Neue Produktentwicklungen
Nach und nach wird nun aber sichtbar, woran in den Produktentwicklungsecken der Herstellerfirmen die ganzen letzten Jahre getüftelt wurde. So führte Bösendorfer zwischen 2016 und 2018 mit dem Konzertflügel Vienna Concert eine neue Instrumentenserie ein, für die das akustische System des eigenen, wie man sagt „einzigartigen“, Resonanzkastenprinzips optimiert wurde. Bösendorfer „maßschneidert“ seinen Resonanzboden mit einem dreidimensionalen Konstruktionswerkzeug, wie Produktentwickler Ferdinand Bräu erklärt, verbindet ihn mit dem Bodenlager und baut die so entstandene akustische Anlage am Ende als eigenständiges Gesamt-Element in den Flügel ein. Im Vergleich mit den früheren Bösendorfer-Konzertinstrumenten soll die neue Serie in Klang und Spielart für Pianisten leichter zugänglich sein, vor allem für die, die Bösendorfer nicht gewohnt sind.
Zunehmende Individualität zeigt sich auch bei anderen Herstellern: Neuerdings arbeitet C. Bechstein als bisher einziger großer Hersteller in Europa mit selbst hergestellten Hammerköpfen, um „noch stärkeren Einfluss auf die Qualität des Klangs nehmen zu können“, sagt Gregor Willmes. Und Steingraeber stellte bei der Frankfurter Musikmesse 2016 schwingende Akustikdeckel vor. Seit 2008 bietet die Firma außerdem in allen Flügeln und Klavieren Resonanzböden aus Kohlefaser an, die stabiler und dynamischer sein sollen als die gängigen Resonanzböden aus Holz.
Die Hauptabnehmer von Firmen wie Schimmel, Steingraeber, Bechstein und Grotrian waren bisher einerseits private Käufer und andererseits Institutionen und Podien unterschiedlicher Couleur. Bei Schimmel sind es eher solche aus der zweiten und dritten Reihe, bei Bechstein und Steingraeber mit dem Konzerthaus Berlin, der Berliner Philharmonie oder dem Pariser Conservatoire auch immer mehr hochkarätige. Jeder Verkauf an eine Hochschule oder eine größere Bühne sei kein selbstverständliches, sondern „ein zusätzliches Geschäft neben dem Markt der Privatkunden“, sagt Gregor Willmes von Bechstein.
Nun bedeutet das für Marktführer Steinway wohl nicht, dass ihm das Geschäftsmodell streitig gemacht werden wird. Er wird nur in Zukunft nicht mehr der alleinige Hahn im Konzerthaus-Korb sein. Außerdem gehe gut die Hälfte der 1.400 in Hamburg pro Jahr gebauten Instrumente ohnehin an private Käufer, sagt Pressesprecherin Höpermann, so auch der Selbstspieler „Spirio“. Doch das Ziel, das Steinway verfolgt, ist nach wie vor der Bau des „best piano possible“ – ein Instrument, das, wie Chefintoneurin Wiebke Wunstorf sagt, „alles können“ soll, „leise, laut, schön, hässlich“. Seit 40 Jahren nimmt Wunstorf jeden einzelnen Flügel persönlich ab, der bei Steinway in Hamburg das Haus verlässt. Sie ist es, die entscheidet, „ob das Instrument ein Steinway ist“. Ob sie mit verbundenen Augen den Steinway im Vergleich mit anderen Flügeln heraushören würde? Die Antwort ist überraschend: „Ich würde meine Hand nicht ins Feuer legen“, sagt sie. Denn jeder Flügel sei anders. Individuell.
So präzise mittlerweile mit CNC-Maschinen und am Computer auch gearbeitet und konstruiert wird – das verbaute Material ist nun einmal vor allem Holz, und ein nicht unerheblicher Teil der Arbeit geschieht von Hand. Intoneure lernen zu spüren, „wo der Flügel hin will“ und ihn in dieser Richtung auszuprägen und zu stärken. Ist das Gesamtergebnis aus Konstruktion und Intonation am Ende stimmig, fühlt sich das Spiel organisch an und ist der Ton und Klang so, wie der Spieler ihn zu gestalten beabsichtigt hat, dann ist aus den 10.000 bis 12.000 Einzelteilen in 9 bis 12 Monaten ein gutes Instrument gewachsen. Ein sehr gutes Instrument aber, das sagt Oliver Greinus, sei eines, das „unmittelbar“ sei, das man im Konzert regelrecht vergesse – weil der Pianist durch den Flügel hindurch wie durch ein Medium sprechen könne, ohne, dass dieser ihn dabei behindere. Zu viele Instrumente täten aber noch genau das.
Christian Blüthner-Haessler nennt es „einen großen Trend“, dass immer mehr Hersteller auf ihre eigene Art und in ihrem eigenen Sound Instrumente auf den Markt bringen, die aus Sicht der Hochschulen, Konzertveranstalter und Pianisten echte Alternativen zum Steinway sind. Der klanglichen Vielfalt in der Musikausbildung, auf den Konzertpodien und in Aufnahmen kann das nur nützen – und der Zukunft der Klavierindustrie ebenfalls.