Erstaunliches tut sich in der Klassik-welt. Hielt man die Hörer von Beethoven & Co noch bis vor kurzem für solide gebildete, aber in Fragen der Technik ein wenig umständliche und wertkonservative Liebhaber des Schönen, Wahren und Guten, zeigen die aktuellen Tendenzen, dass sich das Konsumentenprofil nachhaltig verändert hat.
Es ist inzwischen genauso wahrscheinlich, dass sich jemand Debussy auf seinen iPod lädt wie Doors oder Miles Davis, manchmal sogar nebeneinander und nur durch einen Buchstaben im Verzeichnis voneinander getrennt. Stilistische Grenzen nivellieren sich in der Welt des Virtuellen, der Prozessor macht schon lange keinen Unterschied mehr. Hörgewohnheiten verschieben sich, und die Industrie beeilt sich, für sich rasant verändernde Bedürfnisse auch neue Angebote zu schaffen, schon um den einbrechenden physischen Tonträgermarkt auf anderer Front abzufangen.
Der virtuelle Konzertsaal
Beispiel eins: der virtuelle Konzertsaal. Im Januar 2009 haben die Berliner Philharmoniker einen Service gestartet, der wegweisend sein soll und werden könnte. Mit einem Konzert von Maestro Sir Simon Rattle und dem von ihm geleiteten Ensemble wurden am Dreikönigstag erstmals Live-Signale von fünf Fersehkameras in die digitale Welt gesandt, die von Abonnenten auf den entsprechenden eingeloggten Rechnern genossen werden konnten. Die Digital Concert Hall (http://dch.berliner-philharmoniker.de) soll dabei zum einen das Bühnengeschehen als eine Art individualisiertes Fernsehen in die Wohnzimmer schicken, darüber hinaus aber auch bereits bestehende und sich ansammelnde Archivaufnahmen zugänglich machen.
Der exklusive Spaß kostet knappe zehn Euro pro Event, ist auch im Abo zu haben und ermöglicht es auch von Nowosibirsk aus, Mahlers Fünfte in Berlin zu erleben. Wie alle Pilotprojekte holpert es noch an einigen Stellen, vor allem das umfangreiche und verwirrende Procedere zur Anmeldung und Bestellung der digitalen Konzertkarten wurde von den Kritikern bislang moniert. Fakt ist aber, dass zum einen die Übertragungsraten des Internets und die technischen Kapazitäten der Heimcomputer inzwischen derartige, vor wenigen Jahren noch undenkbare Angebote zulassen. Potentielle Musikfreunde für den Service gibt es angesichts der Beliebtheit wirklicher Konzertkarten genügend, die Qualität der Bilder und Klänge wiederum ist bestechend und die Idee kann durchaus weiter gedacht werden, etwa in Richtung einer Portable Digital Concert Hall für die iPod-Generation, die Philharmoniker in der Westentasche.
„Die Berliner Philharmoniker – das Orchester mit Zukunftskompetenz“, meinten daher die Pressekollegen auf der Seite faz.net mit einem Augenzwinkern. „So fahrlässig wie der Schallplattenskeptiker Wilhelm Furtwängler (‚Weiß ich denn, was die Leute anstellen, während sie meine ‚Eroica‘ hören?!‘) will man nie wieder sein.“
Das YouTube-Orchester
Beispiel zwei geht noch einen Schritt weiter. Am 28. Januar war Einsendeschluss für die Bewerbungen für das YouTube-Sinfonieorchester (http://de.youtube.com/sinfonieorchester). Hinter dem Projekt steht die Idee, ein globales Ensemble zusammenzustellen, das sich nicht an die üblichen akademischen Regeln der Musikerlaufbahn hält. Bewerben konnte sich jeder Musiker, egal welche Vorbildung er hatte, der in der Lage war, seinen entsprechenden Part eines eigens von dem chinesischen Komponisten Tan Dun für diesen Anlass geschriebenen Stücks zu spielen. Noten gab’s zum Runterladen, Motivation von vielen Seiten, schließlich mündet die virtuelle Audition per eigener Videobotschaft in ein reales Konzert des aus den Einsendungen von einer Jury zusammen mit den Usern gewählten Orchesters, das am 15. April 2009 in der New Yorker Carnegie Hall unter der Leitung von Michael Tilson Thomas stattfinden wird. Weit mehr noch als der digitale Konzertsaal könnte dieses Projekt die Paradigmen der klassischen Kulturwelt durcheinander würfeln, denn es betrifft nicht nur die Ebene des Konsums, sondern die der Produktion. Die Richtung ist klar: Das Einstiegskriterium in den Kosmos der Hochkultur ist nicht mehr die Karriereleiter der Konservatorien, sondern ausschließlich das Talent. Die Konkurrenz unter Musikern globalisiert und vervielfacht sich exponentiell, in gleichem Maße wie sie sich demokratisiert. Welche Folgen das haben kann, wenn mit einem Mal junge Menschen Musik machen, die nach alten Regeln nie eine Chance dazu bekommen hätten, zeigte in der realen Welt unlängst erst das aus einem Sozialprojekt abseits der Universitäten hervor gegangene Simón Bolívar Youth Orchestra Of Venezuela unter der Leitung des Jungdirigenten Gustavo Dudamel, dessen Chuzpe und Kompetenz die klassische Konzertwelt verblüffte.
Wachstum in der Krise
„Wenn man im Tomatenbusiness ist, muss man die Pflanzen auch wachsen lassen“, meinte David Eun, VP of Content Partnership beim YouTube-Mutterkonzern Google (und damit auch einer von denen, der hinter Projekten wie dem Online-Sinfonieorchester steht), Mitte Januar auf dem Podium der alljährlichen Musikmesse MIDEM in Cannes. Also Talentsuche, Künstlerpflege und Wertschöpfung abseits der bisherigen Mechanismen der Musikindustrie. Da muss so Mancher der alten Schule schlucken, zumal wenige Tage vor dem Branchentreffen vom internationalen Phonoverband IFPI Minuszahlen von weltweit sieben Prozent ausgerufen wurden.
Doch kaum einer der Businessprofis will noch in das Lamento früherer Jahre einstimmen. Allen ist klar, dass sich etwas ändern muss, sei es nun die Haltung der Konsumenten, der Industrie, das Marketing, die Promotion oder auch die Vorstellung von individueller zugunsten kollektiver Lizenzierung geistigen Eigentums. Das Geschäft ist grundlegend im Wandel begriffen. Online und Mobile Music sind eine Chance, sogar für strukturell dem traditionellen Warentauschmodell verpflichtete Portale wie iTunes. Dort erschließt man sich derzeit neue klassische Musikfreunde quasi im Vorbeigehen.
Die Erfahrung zeigt, dass die Hemmschwelle im Internet sinkt, als Popkonsument auch mal einen Beethoven downzuloaden. Ein beliebtes Angebot neben der digitalen Laufkundschaft ist auch das Coding von Konzertkarten, wo der Hörer nach dem Live-Ereignis etwa einen Track des Künstlers gezielt, günstig oder kostenfrei beziehen kann. Der Wandel lauert überall, so man denn einfallsreich ist. Und nicht nur die populäre Sparte beginnt, aus dieser Erkenntnis geldwerte, kreative Schlüsse zu ziehen.