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Luxusklänge und digitale Nestwärme: ein Screenshot der digitalen Konzertplattform „Dreamstage“
Luxusklänge und digitale Nestwärme: ein Screenshot der digitalen Konzertplattform „Dreamstage“
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Digitales Substitut im Hier und Jetzt statt Kunstkonserve

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Ein halbes Jahr nach dem offiziellen Start der Konzert-Plattform Dreamstage: Mitgründer Jan Vogler im Gespräch
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„Wir bieten Musik in der für Streaming bestmöglichen Klangqualität und mit den höchsten Datenmengen.“ sagt der Cellist Jan Vogler über die von ihm mit Thomas Hesse, ehemaliger Bertelsmann-Vorstand und Sony Music-Manager, gegründete Onlineplattform Dreamstage. Seit unserem Gespräch am Tag nach dem Festlichen Weihnachtskonzert des Dresdner Festspielorchesters im Kulturpalast, das auf Dreamstage am 12. Dezember 2020 live übertragen wurde, ist der digitale Höhenflug der Klassik-Welt schon wieder mehrere Runden weiter.

Über die Feiertage und den Jahreswechsel brach an den Endgeräten eine Sturmflut in allen Genres herein: Vollständige Bühnenwerke live, zeitversetzt oder aufgezeichnet. Talk-, Bildungs- und andere Einheiten oder Konzerte, die allermeistens gratis oder für eine geringe Buchungssumme in Mediatheken abrufbar sind. Dagegen setzt die Plattform Dreamstage von ihrem Geschäftssitz in Barrymore, New York, seit August 2020 mit den Submenüs Classical, Pop/Rock, R&B / Hip-Hop, Latin, Country, Jazz und ‚other‘ auf Qualität und unterdrückt alle digitalen Stoßseufzer gegen pandemische Torschlusspanik. Auf Dreamstage ist jede Musik erlaubt – außer der langweilenden und nichtssagenden. Der Eintritt in die Digital Concerto Hall wurde vor kurzem auf 9,99 US-Dollar gesenkt. Der neue Preis entspricht dem Zugang für zweieinhalb Pay-Krimis bei Spotify – dafür erhält man den Online-Zugang für Live-Konzerte mit Julian Prégardien, Christian Tetzlaff, dem Horszowski Trio oder zu Beethovens sämtlichen Cellosonaten mit Jonathan Weigle und Ben Cruchley aus dem Kammermusiksaal des Beethovenhauses Bonn. Meistens ist das Konzertvergnügen nach einer Ausstrahlung vorbei und nur in Ausnahmefällen gegen Bezahlung wiederholbar.

Die Summen von Einnahmen, Erträgen und Kosten bleiben Betriebsgeheimnis von Dreamstage. Im Gespräch mit Jan Vogler geht es um das Wie, das Was und die Unterschiede zum Management physischer Konzerte. Bei Dreamstage ist tatsächlich einiges anders als bei Erwägungen über Orchester-, Solisten- und Cross­over-Auftritte in physisch zugänglichen Gastier- und Abonnementveranstaltungen.

Musiker als Mitgestalter

„Wir erleben den Prozess einer rapiden technischen Revolution, die wir Musiker unbedingt aktiv mitgestalten müssen.“ sagt Vogler gleich zu Beginn. Corona als Impulsgeber, die immer dringlichere Bekämpfung des Klimawandels und der schon rabiate Digitalisierungsschub schaffen neue Möglichkeiten. „Das ist gefährlich. Denn es entstehen technische Perfektionierungen, durch die Virtual Reality und physische Realität zunehmend ununterscheidbar werden.“ Es ist erst die zweite Frage, ob diese galoppierenden Innovationen gut oder schlecht sind für Interpreten und die sich seit einigen Jahrzehnten erneuernden physischen Konzertformate. Vogler will mit Dreamstage Musiker*innen ein Forum und dem Publikum mit einem verspielt uncoolen Design die Angebote zu Streifzügen in bedeutende Konzertorte mit etwas digitaler Nestwärme gestalten. „Zum Beispiel müssen wir derzeit auf die gedrängten Sitzordnungen in Jazzkellern verzichten. Umso wichtiger ist es, unser Publikum in Konzerten mit allen Genres direkt anzusprechen.“ Gemeint sind neben dem hochaufgelösten Klang und Einsatz von bis zu acht Kameras auch die Orte und Formate. Vogler versteht seine Zielgerade als deutliche Kampfansage gegen die saloppe Nutzung von Laptops und Smartphones im Vergleich zu den hohen technischen Standards von Stereoanlagen noch vor einigen Jahren. Trotzdem widerspricht er einem Vergleich zwischen ihm und Herbert von Karajan, der vor 50 Jahren bei jeder akustischen und akustisch-visuellen Innovation durch Laserdisc und CD in der ersten Reihe der musikalischen Studio-Erkundungen stand.

Vogler begreift die immer besser zu meisternde Technik als digitales Substitut im Hier und Jetzt, nicht als Kunstkonserve für die Nachgeborenen. Zudem will er auf keinen Fall digitale vor den physischen Konzerterlebnissen favorisieren, selbst wenn ihm die Lust des digitalen Publikums auf Unbekanntes weitaus sympathischer ist als Phantasielosigkeiten ortsgebundener Konzertformate. Wenn man schon zum Wechsel in eine andere, distanzierte Form des Musikerlebens gezwungen ist, sollte man auch möglichst viele von deren Vorteilen ausschöpfen und weiterentwickeln. Vogler schwärmt von einem performativen Konzert des New Yorker Avantgarde-Komponisten Patrick Higgins, dessen digitales Multimedia-Ereignis mit Projektionen, filmischen Zuspielungen und Lichteffekten im digitalen Rahmen sogar gegenüber dem physischen Event gewonnen hatte. Künstler sind jedoch angehalten, vor dem Dreamstage-Broadcast eigene Social-Media-Aktivitäten zu mobilisieren. Die Impulse haben sich also nicht nur für das Publikum beschleunigt. „Nach einem durch Medien übertragenen Konzert erreichen mich über direkte SMS, private Messages und Posts noch zum Zeitpunkt des Auftritts Rückmeldungen von bekannten und unbekannten Personen. Natürlich freue ich mich über die prompte Anerkennung und bin trotzdem noch immer fassungslos über derartige Beschleunigungen der Kommunikation.“

Digitale Exklusivität

Dass wir am Anfang einer Epoche der digitalen Exklusivität stehen, hält Vogler für sicher. Bei Dreamstage sollen sich Gäste geborgen fühlen. Das beginnt mit der Entscheidung für die Unwiederholbarkeit eines Konzertes und damit den Verzicht auf Online-Wiedergabefunktionen wie Wiederholung oder Vorlauf. Außerdem gibt es bei Dreamstage keine Fenster für User-Posts und auch keine Leiste mit einsehbaren Zuschauerzahlen und technischen Daten, die vom Musikerleben ablenken. Wer zahlt, überlegt sich zudem während eines Stückes zweimal, ob beim Gang zum Kühlschrank etwas Wesentliches verpasst werden könnte.

Als Intendant der Dresdner Musikfestspiele und international erfolgreicher Solist beobachtet Vogler die Rahmenbedingungen des internationalen Musiklebens genau. Er ist fest davon überzeugt, dass interkontinentale Reisen aufgrund pandemischer Risiken oder wirtschaftlicher Unrentabilität in naher Zukunft seltener werden. Damit steigert sich das kulturelle Fernweh des Publikums und mit ihm die Sehnsucht nach digitaler ‚Originalität‘. Nicht nur das Ritual eines großen Sakralwerkes zum Karfreitag machte zum Beispiel die Johannespassion in der Einrichtung für den Solotenor Benedikt Kristjánsson, Orgel und Schlagwerk zu einem der ‚klassischen‘ Medienspektakel des Corona-Jahres 2020, sondern auch der Veranstaltungsort, die Leipziger Thomaskirche als authentischer Wirkungsort von Johann Sebastian Bach. „Digital sollten wir Veranstalter also Partnerschaften kultivieren wie für das physische Konzertleben.“ freute sich Vogler. „Das Klavierhaus Steingraeber in Bayreuth bietet in der Kooperation mit Dreamstage wie zu seinen eigenen Konzerten den mitwirkenden Musikern Unterstützung und Unterkunft. Der originale Flügel von Franz Liszt ist auch für das digitale Publikum eine Sensation.“

Preislich liegt der Aufwand für ein digitales Musikereignis in exzellenter Tonqualität ohne Abstriche weit unter den Ausgaben für einen ‚normalen‘ Konzertbesuch. Für die Mitwirkenden – egal ob Stars oder Debütierende – bedeutet ein digitales Konzert allerdings einen enormen Zuwachs an Stress. Vor der Kamera ist jeder Wimpernschlag und jede nervöse Geste deutlicher erkennbar. Trotzdem lernen Künstler gerade während Corona die Meisterung dieser neuen Herausforderungen. Dreamstage ist kein digitales Mausoleum und soll kein tönendes Pantheon von Interpreten werden, sondern richtet sich gezielt an das Publikum und Musiker von heute. Vogler sieht den Kampf um das Publikum gelassen und vertraut dem Ausspruch seines Vaters: „Die Welt hat Platz für zwei große Cellisten“ – oder mehrere. Das bedeutet nichts anderes, als dass der mit Verkaufs- und Zuschauerzahlen ausgetragene Wettbewerb in den Spitzensegmenten der Klassischen Musik kein überall gültiger Wertmaßstab sein muss.

Ausgefallenes gewünscht

Unter den Plakatfeldern im Menü von Dreamstage war das Motiv zum Weihnachtskonzert eines der unauffälligsten. Auf diesem findet sich derzeit ein Foto Voglers mit Chouchane Siranossian, der Konzertmeisterin des Dresdner Festspielorchesters. Die Frage nach Mehrfachverwertungen von Erfolgen stellt sich für Vogler nicht. Obwohl die Sonate von Schostakowitsch das weitaus bekanntere Stück ist, erreichte seine Einspielung der Cellosonate von Kurt Weill von der gleichen CD die weitaus höheren Klickzahlen, weil sie die bisher  einzig greifbare professionelle Aufnahme des Stücks ist. Das bedeutet für die nächsten Dreamstage-Projekte: „Je schräger und ausgefallener, umso spannender werden die Programme für uns. Außerdem gibt es noch immer zu wenige digitale Konkurrenzveranstalter mit unseren Qualitätsansprüchen.“

 

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