Musik, vor allem die Kunstmusik, genießt in Deutschland traditionell hohe Wertschätzung: Beispielsweise schließt sie „dem Menschen ein unbekanntes Reich auf; eine Welt, die nichts gemein hat mit der äußern Sinnenwelt, die ihn umgibt, und in der er alle durch Begriffe bestimmbaren Gefühle zurückläßt, um sich dem Unaussprechlichen hinzugeben“, so E.T.A. Hoffmann in seiner Besprechung der 5. Symphonie Beethovens, einem der Gründungsmanifeste des deutschen Musikidealismus. Musik, wie gesagt, ist etwas ganz Besonderes, sie befördert uns aus den je aktuellen Um- und Missständen hinaus – wie Beethoven seinen Florestan „zur Freiheit ins himmlische Reich“ mit ebenso viel Pathos wie avancierter Kompositionstechnik.
Musik, heißt das, kann etwas bewegen, und die entsprechende Wertschätzung, über alle historischen Brüche hinweg, schlägt sich dann auch nieder in den weiterhin hohen Ansprüchen hierzulande, die man mit der Musik verbindet, dem hohen Grad ihrer Institutionalisierung sowie nicht zuletzt in ihrer, im Vergleich zu anderen Künsten, hohen Subventionsquote. Bei dieser zweifachen „Unterfütterung“, idealiter wie materialiter, ist der Legitimationsdruck dann mindestens doppelt so hoch, sind betreffende Fragen von besonderem Gewicht. Wie die von Berthold Seliger in seinem neuen Buch.
Der renommierte Konzertagent unter anderem von Patti Smith, Tortoise und ähnlichen unabhängigen Größen und selbst ein Indie-Geist hat also nachgelegt oder – wie man’s nimmt – nachgeladen. Nach seinem Insiderbericht von 2013 „Das Geschäft mit der Musik“ über die zwischen Marktmacht und Staatspop ins qualitativ Bodenlose abstürzende Szene und „I Have A Stream“ von 2015, dem Plädoyer für die Abschaffung des gebührenfinanzierten Staatsfernsehens wegen zu großer Politik- wie Marktnähe, zielt Seliger nun auf die Hochkultur, ins (auch am Beispiel Elbphilharmonie) Herz und Schatzkästlein der kulturellen Gentrifizierung. Witzigerweise ist er selber verlagstechnisch vom alt-linken Kreuzberg und der Edition Tiamat, wo die beiden ersten Bücher erschienen sind, zum angesagteren Prenzlauer Berg umgezogen, wo Matthes & Seitz nun im Herbst 2017 seinen „Klassikkampf“ herausbrachte. Ob dieser Umzug einer Logik folgte, mag hier offen bleiben. Sein schriftstellerischer Streifzug durchs kulturelle Themenrevier freilich entbirgt schon eine Strategie.
Es geht Seliger stets um die Räume: Räume für Fantasie und Kreativität, für künstlerische Erfahrung und Entwicklung, Raum für das, was die Menschen mit ihren Sinnen alles so anstellen können, wenn sie denn mal in Bewegung geraten abseits des stets Vorgebahnten, Vorgesetzten und -gekauten. Vor allem um Gestaltungsräume des Individuums, die von Staats wegen mit gutem Grund hervorgehoben sind und unterhalten werden: Ernste Musik, Bildung und Kultur eben, so der Untertitel. Und da implodieren Popmusik, Fernsehen und die E-Musik zusammen, denn spätestens seit mit der Digitalisierung und Medienkonvergenz die Ein- und Ausdrücke auf Seiten von Sendern (oder Urhebern) wie Empfängern (oder Konsumenten) vollständig anschlussfähig und ausbeutbar geworden sind, ist der „Anschluss“ total und sind wir im allerplattesten Sinn aller Sinne beraubt. Seit aus dem kleinsten Blick oder Klick noch Nutzen und Mehrwert zu ziehen sind, war auch klar, dass nach der massentauglichen Unterhaltung auch die elitäre irgendwann im Strudel dieses Verwertungskreislaufs untergehen würde. Und hier erhebt Seliger sein drittes „J’accuse“, wobei er zum dritten Mal recht hat.
Denn wogegen er klagt und auf beinahe 500 Seiten musik- wie wortreich ankämpft, das ist die Preisgabe sämtlicher über’s Zählbare hinausgehender Ansprüche an die Ernste Musik zugunsten allein quantifizierbarer Kalküle bei Kasse, Klasse und Kompetenzen, sprich: gegen eine neue kulturelle Ökonomie, die Wohlstand, soziale Distinktion und Bildungserfolg derart smart kurzschließt, auf dass Erfahrung und Erkenntnis immer mehr auf Reiz und Reaktion massenkompatibel heruntergepegelt werden. Selbsterfahrung und -bestimmung? Zu lahm und langwierig. Weg damit! Was Seliger für eine Perversion des emanzipatorischen Erbes der Klassik hält. Kunstmusik heißt uns Selbstwerdung, das wird spätestens klar, wenn er von seiner eigenen pianistischen Sozialisation erzählt mit Bach, Beethoven, Debussy, ganz Auge und Ohr für Friedrich Gulda und Arturo Benedetti Michelangeli. Daher hält er der auch allumfassenden musikalischen „virtual reality“ die gute alte „communio“ entgegen, die bekanntermaßen seit Menschengedenken erst durchs (Mit-)Musizieren so richtig in Schwung kam. Und weil das buchstäblich alle meint, sind seine Folgerungen und Forderungen beileibe nicht nur kulturpolitisch. „Vermittlung“ etwa tut sicher not, doch sofern sie nicht nur paternalistisch von oben sowie für „Amelie, Lukas, Johanna und Maximilian und eben nicht für Ayse, Yüksel, Mirko oder Kevin“ sein soll, dann muss es auch um die weiteren gesellschaftlichen Bedingungen von Leben gehen, in dem das eigene Musikerleben authentisch stattfinden kann. Dieses gut idealistisch als Indikator eines erfüllten Lebens nehmend, sieht Seliger heutzutage verfehlt, denn immer weniger Menschen – die einschlägigen Besucherstatistiken hält er aufgrund der vielen Abonnenten für schöngerechnet – werden des Glücks dieser Hochkultur teilhaftig, wofür er neueste Untersuchungen der Bertelsmann Stiftung, des Rates für Kulturelle Bildung oder auch den Bildungsbericht der Bundesregierung ebenfalls hätte anführen können.
Mit umfangreichen Exkursen etwa zu den Saint-Simonisten, den Wiener Arbeitersymphoniekonzerten, französischer wie sowjetischer Revolutionsmusik verweist Seliger dagegen auf die große Tradition der Wiederaneignung von Künsten wie der Kunstmusik, nachdem sie ihren emanzipatorischen Geist in bourgeoisen Logen und Boudoirs aushauchten. Es geht ihm darum, für die Klassik „die Gesellschaftlichkeit zurückzuerobern“, wo sie sich derzeit ausnimmt wie „eine unerquickliche Mischung aus Elitekunst, Hochleistungsklassik, Starsystem, Kulturindustrie, Konsumismus, Biedermeier.“ Hier folgt Seliger weitestgehend treu den argumentativen Bahnen der Musikgeschichte Georg Kneplers, des ersten Rektors der Hanns-Eisler-Hochschule und Ost-Berliner Pendants zu Carl Dahlhaus. Womit er auch nicht unrecht hat: Beide achteten einander sehr, und bei aller Gegensätzlichkeit, kurz: Autonomieanspruch hie, Befreiungsgestus da, wären sie sich heute in Analysen und Schlussfolgerungen zur Kunstmusikszene und deren Sponsoring etwa noch weniger uneinig als ehedem.
Wem das zu viel vom 68er-Geist ist, dem sei entgegnet, dass es erfreulich ist, im essayistischen Genre mal wieder intellektuell anspruchsvoller und nachdenklicher über Musik reden zu hören, als es sonst so klingt im Jargon der Kulturmanager oder dem feixenden Tonfall der Kulturinfarkt-Feldschere. Um von der Hingabe an die Sache gar nicht zu reden. Und wem das zu viel nach „Friede den Hütten! Krieg den Palästen!“ klingt, dem sei entgegnet, dass es zum Hamburger G20-Gipfel mal was anderes und gewiss nicht gegen den Willen des Urhebers gewesen wäre, den Willigen unter den Demonstranten auch mal die Neunte zu gönnen. Manche Konfrontation wäre womöglich zu überwinden gewesen – sicher auch im Sinne der grenzüberschreitenden musikalischen Hochkultur, die Seliger im Buch als Erfahrungshorizont entfaltet: von außereuropäischen Kulturen zu John Cale zu John Cage, von Blind Willie Johnson zu Beethoven. Überhaupt, sehr viel Beethoven, den der Autor in den Schlusskapiteln krönt als „role model“ für einen selbstbestimmten und engagierten Künstler, der mit der Fortentwicklung künstlerischer Mittel die Fortentwicklung der allgemeinen Umstände befördert. Der Beethoven der „Eroica“ oder der „Fünften“ gleichsam als der frühe Luigi Nono.
Auch das ist recht und billig, denn umwerfend gute Musik war stets für umwerfende Wirkungen gut. Das mit Seligers „role model“ mutet aber leicht gipsern und angestaubt an in seiner Kopplung von Beethoven und Fortschritt. Der freiheitsliebende Titan, eine Rolle, für die es auch andere Besetzungsvorschläge gibt, ist mittlerweile auch eine Fiktion, die Kraft und Vielfalt seiner Musik auf die bloße Handlungsermächtigung des „Jetzt komme ich“ konfektioniert, zur Currentzis-Pose gewissermaßen. Und gleichfalls reduktionstisch der letztlich bürgerlich gewinnorientierte Begriff von musikalischem Fortschritt, nach dem das Neue stets als Ausdruck von und Bewegung zu einer notwendigen Perfektibilität führt, weshalb das Alte dem immer besseren Heute „alternativlos“ zu weichen hat. Das aber war stets auch so sehr nach Entrepreneur und Wachstum modelliert, dass man sich fragt, warum es einem linken Kritiker wie Seliger entgeht bei seinem Engagement für Erbe und Nachhaltigkeit. Auf jeden Fall aber: Sein Buch ist es wert, gelesen zu werden, wie der Klassikkampf es wert ist, geführt zu werden.
- Berthold Seliger: Klassikkampf. Ernste Musik, Bildung und Kultur für alle, Matthes & Seitz, Berlin 2017, 496 Seiten, 24,00 €, ISBN 978-3-95757-467-1