Man stelle sich die Situation vor: die Straßenbahn nähert sich ihrer nächsten Haltestelle. Doch statt der erwarteten Lautsprecheransage „Nächste Station: Kokerei Zollverein. Ausstieg links!“ ertönt plötzlich Musik und ein Ansage wie diese: „Oh Duft aus alter Märchenzeit“… Arnold Schönbergs „Pierot Lunaire“ in den öffentlichen Verkehrsmitteln der Stadt? Das klingt zunächst verrückt, ist aber nur eine von vielen Ideen, mit denen die Organisatoren des „Schönberg-Festivals Ruhr“ momentan schwanger gehen, das als ein Schwerpunkt der Eröffnungsspielzeit der neuen Philharmonie Essen daherkommt. Das Programm des Festivals weist eine ungeheure Vielfalt auf: von Lesungen über Sinfonie- und Kammerkonzerte bis hin zur Klaviernacht, von Johann Strauß über Joseph Haydn und Franz Schubert bis zu Alban Berg und Arnold Schönberg. Einer von denen, die dem Intendanten der Philharmonie Essen, Michael Kaufmann, als künstlerischer Berater und Kurator für den „Schönberg-Zyklus“ bei der Vorbereitung des Programms zur Seite stehen, heißt Bojan Budisavljevic. Er ist Projektleiter des ChorWerk Ruhr bei der landeseigenen Kultur Ruhr GmbH sowie mit Konzerten der RUHRtriennale beschäftigt. Von 1988 bis 1994 war er Musikdramaturg bei den Bochumer Symphonikern und leitete nach Lehrtätigkeiten in Leipzig und Berlin später eines der Vorgängerprojekte der RUHRtriennale: „Musik im IndustrieRaum“. Die nmz unterhielt sich mit ihm über Musik und Kultur an der Ruhr, über Schönberg und Bilder und über die Idee von der Musik in der Straßenbahn.
Angesichts der Tatsache, dass sich Musikaufführungen im Allgemeinen, solche der Neuen Musik im Speziellen, nicht von selbst tragen und dass von Seiten der öffentlichen Hand wenig zu erwarten ist: das so umfangreiche und vielseitige Programm des Schönberg-Festivals muss Ihnen doch schlaflose Nächte bereiten...
Bojan Budisavljevic: Mir vielleicht weniger als dem Intendanten der Philharmonie, Michael Kaufmann, der ja das Heft in der Hand hat, welches auch das Scheckheft ist...(lacht).
Aber im Ernst – die finanzielle Schere hat man, wenn man länger in diesem Betrieb drin ist, sowieso im Kopf – man weiß von vornherein, was realistisch ist und was nicht. Und das hält produktiv. Es bleibt natürlich immer ein Risiko, welches da heißt: Nehmen die Leute das an? Man muss also einerseits vorsichtig und andererseits mutig sein. Aber letztendlich ist die Attraktivität des Programms entscheidend. Das macht übrigens die Zusammenarbeit mit Michael Kaufmann so fruchtbringend: Attraktivität, wie wir sie verstehen, wird nicht vom Marktwert gesteuert, sondern von Erfahrungen und der Intuition, dem Gefühl: Dieses Programm kann gut aufgehen.
Natürlich reicht das für einen Musikbetrieb, auch wenn er sich einer hochwertigen kulturpolitischen Aufgabenstellung verpflichtet sieht, allein nicht aus. Seine Arbeit wird zum großen Teil von den Einnahmen finanziert. Es müssen eigene Betriebsmittel dazu aufgebracht werden. Das heißt, es geht durchaus ans Eingemachte, und ganz besonders, wenn es um aufwändige und gemeinhin „unpopuläre“ Projekte geht. Da sind dann die gefragt, die das künstlerische Risiko anerkennen und dabei helfen, es abzumildern. In dem speziellen Fall des „Schönberg-Zyklus“ in Essen spielt so die Förderung durch die Kunststiftung Nordrhein-Westfalen, also durch die Lotto-Stiftung des Landes eine überragende Rolle. Ohne sie würde das überhaupt gar nicht laufen.
Profiliertes Programm
Nun war für die Förderung der Stiftung zweierlei wichtig. Zum einen hat sie sich eines großen Themas angenommen: „Arnold Schönberg“. Zum anderen konnten mit dem Essener Thema „Schönberg“ im hohen Maße auch die regionalen Kräfte zu wichtigen Programmbeiträgen motiviert werden. Das heißt: Es gab kein Gießkannenprinzip. Hier ging es von Anfang an um ein profiliertes regionales Programm in Nordrhein-Westfalen, an dem sich all diejenigen beteiligen, die es wollen und können.
: Die Tradition der Stadt Essen als Musikstadt begründet sich unter anderem auf Namen wie Gustav Mahler, dessen sechste Sinfonie hier vor genau hundert Jahren uraufgeführt wurde. Woher aber rührt das Interesse dieser Region für die Moderne?Budisavljevic: Dass sich das Ruhrgebiet genau dafür interessiert überrascht nicht, wenn man sich mal den Erfolg der RuhrTriennale 2003 vor Augen führt: Messiæns „Saint François“ ausverkauft, „Begehren“ von Furrer ausverkauft. Dann etwa die vom Publikum begeistert aufgenommene Uraufführung von Harrison Birtwistles „Theseus’ Game“. Wenn man bedenkt, dass schon zu Mitte der achtziger Jahre sehr rührige Komponisten im Ruhrgebiet bemüht waren, eine lebendige Szene hier vor Ort zu etablieren, Leute wie Nicolaus A. Huber oder Gerhard Stäbler etwa. Sie bereiteten den Boden, um 1995 die Weltmusiktage der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik ins Ruhrgebiet zu holen.
Es kommt also nicht von ungefähr, dass Michael Kaufmann so etwas wie diese Schönberg-Woche gerade in seiner Eröffnungs-Spielzeit wagt. Und er geht ja noch darüber hinaus: H.K. Gruber ist „composer in residence“ mit fünf Projekten, dreimal gastiert das Ensemble Modern in der Philharmonie: Das ist schon fast eine eigene Abo-Reihe Die musikFabrik, unser Landesensemble für Neue Musik, präsentiert sich gleich fünfmal mit Musik etwa von Webern, Birtwistle, Sawer und Michael Gordon in der Philharmonie. Aber auch Pierre Boulez und das Chicago Symphony werden kommen… Bedenken Sie: Das Ruhrgebiet wurde ge- und auch verformt in den letzten 150 Jahren. Es ist eine Region der Moderne – mit ihren Vor- und Nachteilen. Jürgen Flimm etwa wurde, als er die Intendanz für die RuhrTriennale 2005 bis 2007 annahm, in einem Interview gefragt, warum er als Schauspielchef der Salzburger Festspiele wegginge und jetzt ins Ruhrgebiet käme. Er hat geantwortet: „Das Publikum hier ist neugierig – das in Salzburg ist altgierig.“
: Diese Neugier wäre ja eine gute Voraussetzung nicht zuletzt auch für den ökonomischen Erfolg solcher Veranstaltungen, der ja letztlich nicht ohne Signalwirkung auf die nachfolgenden bliebe.Budisavljevic: Tatsächlich gibt es hier ein sehr großes Potential. Bei einer eine Auslastung von 83 Prozent im letzten Jahr braucht die RuhrTriennale den Vergleich mit den Berliner Festwochen nicht zu scheuen. Das Gegenteil ist wohl eher der Fall. Das hat Signalwirkung, und die Philharmonie Essen kann und wird dieses Signal aufnehmen und weiterleiten.
Wir haben hier einen unglaublich großen Ballungsraum – von Duisburg bis Dortmund sechs Millionen Menschen. Das wird oft verkannt, weil die Region nicht wenige gewaltige „Leuchttürme“ auf der kulturellen Szene aufweist. Da leuchten zahlreiche unterschiedliche Feuer und senden dem Publikum ihre Signale zu. Diese Menschen sind alle mobil. Sie alle haben städtische Kulturinteressen und vielfältige kulturelle Bedürfnisse. Und darum glaube ich auch, dass dieser programmatische Mix der Philharmonie, den Michael Kaufmann anbietet, das richtige Programm für das Ruhrgebiet ist.
Mentale Mobilität
Natürlich ist da stets ein bisschen „wishful thinking“ mit dabei. Diese Mobilität, auch die mentale, muss man auch herstellen, was nicht ganz einfach ist. Wenn sie sich dann aber einstellt, dann ist es unwerfend. „Kirchturmsdenken“ – das Verharren im Schatten des heimatlichen Kirchturms – ist in ja Deutschland kaum irgendwo so ausgeprägt wie im Ruhrgebiet. Ein ermutigendes Beispiel: Das Ruhrgebiet bewirbt sich auch um die „Kulturhauptstadt Europas 2010“. Wir haben in den Grenzen des Kommunalverbands Ruhrgebiet elf kreisfreie Städte und vier Landkreise, also von Essen, Bochum, Dortmund bis zum Kreis Recklinghausen und Kreis Wesel etwa, die sich alle als Region bewerben. Die Voraussetzung für eine Bewerbung ist jedoch, dass sich eine einzige Stadt bewirbt und diese dann für die Region. Unlängst erst hat man hier also tatsächlich das 21. Jahrhundert erreicht, indem die sich mit Argusaugen bewachenden und durchaus auch einander beneidenden Städte Bochum und Essen sich entschlossen haben, dass sie die Bewerbung auf die Bahn bringen werden, aber die Entscheidung für eine der Städte einem Dritten überlassen. Das wird in diesem Falle die Versammlung des Kommunalverbandes Ruhrgebiet mit Vertretern aller Städte und Gemeinden, wenn man so will: das Ruhrparlament, sein. Das ist ein großer Schritt, wenn man ihn vor dem Hintergrund der Mentalität im Ruhrgebiet betrachtet. Ein Signal ist gesetzt. Mal sehen, was für eine Bewegung da noch entsteht.
Teil zwei des Interviews in der nächsten Ausgabe der nmz >>>