Hauptbild
Stark stilisiertes Bild mit in Gelb, Petrol und Altweiß gehaltenem Hintergrund und vielen Schwarzgekleideten die Streichinstrumente oder Klavier spielen und mit sehr großen an Zeitungen erinnernden Notenblättern ausgerüstet sind.

Der wohl als gescheitert anzusehende Versuch eines Text-zu-Bild KI-Services, „mehrere Komponistinnen und Kompo­nisten aus dem Barock bis in die Zukunft beim Komponieren“ (Wortlaut des Prompts) darzustellen. Foto: mu via Pixlr

Banner Full-Size

Neuorientierung auf allen Ebenen

Untertitel
Zur Frage von Kreativität unter veränderten Bedingungen
Vorspann / Teaser

In der Sendung „Leporello“ vom 5. Juni 2023 auf BR-KLASSIK wurde über KI bei der Umsetzung von Klang in Noten berichtet. Dass KI – nettes Gimmick – kompositorische Stilkopien anfertigen kann, ist mittlerweile bekannt. Aber macht die neue Entwicklung nicht Komponistinnen und Komponisten vollends überflüssig und gefährdet Musikverlage?

Publikationsdatum
Paragraphs
Text

Hier zeichnen sich Umbrüche ab, die komplette bisherige Geschäftsmodelle drastisch verändern. Sie sind Teil einer Umwälzung größeren Maßstabs, den ich als das Ende des bürgerlichen Zeitalters und damit auch das Ende der bürgerlichen Kultur bezeichne. So, wie seit dem 18. Jahrhundert das aufstrebende Bürgertum mithilfe der Industrialisierung den vormals vorherrschenden Adel und dessen Maßstäbe setzende höfische Kultur marginalisiert hat, so entstehen jetzt neue Milieus, Schichten, Klassen, die die seit gut 250 Jahren vorherrschende bürgerliche Kultur ihrerseits marginalisieren und die Deutungshoheit übernehmen. Der Treibsatz dabei ist die Digitalisierung. KI als Teil der Digitalisierung ist also mithin das Gegenstück zur Dampfmaschine von James Watt. Welche Auswirkung hat dieser Wandel auf Kreativität und den Umgang damit?

Seit der Barockzeit stellt sich die komponierte Musik im Sinne der Fortschrittsidee als eine fast lineare Kette von Entwicklungen dar: Ausweitungen, Erweiterungen, Einbeziehung von neuen Klängen, Spielweisen, Formen – diese Entwicklungslinie schlingerte zwar mitunter heftig, verlief aber doch folgerichtig von der eher höfisch geprägten Musik des frühen 18. Jahrhunderts bis zur Neuen Musik nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Novitätendichte ist in ihrer Gedrängtheit deutlich höher als zum Beispiel vor der Barockzeit, wo es natürlich auch Entwicklungen gab. Anfangs- und Endpunkt dieses Bogens, also Alte Musik und Neue Musik, sind nach wie vor eher was für Spezialisten bei Sonderfestivals, die allen Öffnungsankündigungen zum Trotz teilweise Glaubenskongregationen gleichen. Im Mainstreamprogramm des bürgerlichen Konzertwesens kommen nach wie vor in erster Linie die Kompositionen aus der Hochphase der bürgerlichen Gesellschaft vor, also Klassik bis Impressionismus. Das zunehmend artikulierte Unbehagen an diesem „klingenden Museum“ ist ein Symptom für das Auslaufen des bürgerlichen Mainstreams und dessen Ablösung durch neue Inhalte, Formate und Strukturen, die sich jedoch noch nicht ganz klar abzeichnen. Aber auch die Trüffelschweine unter den Verlegern und Interpreten, die bis dato unbekannte Werke aufstöbern, verbleiben im funktional-ideologischen Rahmen des bürgerlichen Konzertwesens. Gleiches gilt für vorgeblich „neue“ Konzertformate sowie die zahllosen Educationprogramme. Wobei in den letzten 250 Jahren immer galt, dass ein latent gegenkulturelles Rebellieren gegen geltende Konventionen – „épater le bourgeois!“ – immer der Mechanik der Gewöhnung und damit Verharmlosung unterliegt. Es degeneriert somit zur vorzeigbaren und letztlich ­wieder gesellschaftlich akzeptablen Kulisse des Establishments – die kapitalis­tische Verwertungslogik greift eben auch bei der bürgerlichen Eigeninszenierung. Dass ein Festival für Neue Musik „Éclat“ betitelt ist, spricht in dem Kontext Bände.

Abmischen statt komponieren

Haben Komponisten sich – mal mehr, mal weniger bewusst – bisher eher in einem Kontext historischer Fach­entwicklungen gesehen, eines Status quo, den es zu überwinden galt, so sieht die Sache heute deutlich anders aus. Folgt man dem Soziologen Andreas Reckwitz, wird sich Kreativität zunehmend im Bereich der einfallsreichen Re-Kombination bereits vorhandener Elemente abspielen. Als Komponist bedient man sich also der möglichen Optionen und „mischt neu ab“. Die Auswahl der Elemente und die Festlegung der kompositorischen „Spiel“regeln machen den eigentlichen kreativen Akt aus. Gut, das haben so gesehen Schönberg und Hauer auch getan (und später zum Beispiel die Serialisten), aber es ging dabei viel stärker noch um das Neue, um die Abkehr vom alten, gewohnten Komponieren, man war noch gefangen in der Fortschrittsideologie. Heute bleiben Spielregeln stärker im Bereich des schon Bekannten, denn historische Bezüge sind unumgänglich – an irgendwas, irgendwen erinnert es einen immer.

Es geht also nicht zuvörderst um eine Abkehr vom aktuellen Standard – wie ist der eigentlich derzeit definiert, gibt es den überhaupt noch? –, sondern die Möglichkeiten des Komponierens liegen wie in einem überdimensionalen Buffet ausgebreitet vor einem. Verändert sich da nicht die Rolle eines Komponisten, einer Komponistin? Geht es dann nicht mehr um die Überwindung überkommener Praktiken, also wirklich „neu und unerhört“ zu komponieren? Sondern eher um einen Kuratierungsansatz, die Möglichkeiten, die es gibt (und die sind in ­ihrer Vielgestaltigkeit kaum zu überblicken), nach meinen persönlichen Vorstellungen neu zu mixen, so, dass ich als Kreativer eine eigenständige Stimme, Farbe (oder, der Marktlogik entsprechend, „Marke“, „brand“) habe und sie mit Wiedererkennungswert performen kann? Ein Stück gilt nicht mehr als „interessant“, weil es fachkontextlich im historischen Sinne „neu“ ist (beziehungsweise entsprechend rezensiert wird), sondern weil es in der konkreten Aufführung mich als Zuhörer emotional berührt und mitnimmt. Unabhängig davon, ob es vielleicht Bestandteile hat, die andere als „historisch überholt“ bezeichnen würden. Die objektivistische Sicht auf historische Entwicklungen (Überwindung der Dur-Moll-Tonalität et cetera) verändert sich also zum subjektivistischen Blick auf Möglichkeiten eines Re-Arrangements. Ein postmodernes „anything goes“ kann dabei durchaus inkludiert sein. Was hat ein Komponist wie Ligeti Prügel aus der Branche bezogen, als er 1982 in seinem Horn-Trio wieder „Melodien“ schrieb. Stört es heute hingegen, wenn in einem neuen Werk ein Molldreiklang auftaucht, eine cantable Gesangslinie oder gar ein durchgängiger Beat? Nein, wichtig ist nur, ob es von den Zuhörern als „interessant, abwechslungsreich und spannend“ wahrgenommen wird. Die Hintergrundfolie einer solchen ­Valorisierung ist also nicht mehr bildungsbürgerlich-historisch definiert, sondern individuell, emotional und situationistisch.

Gesellschaftliche Umwälzungen

Dieser Schwenk hat natürlich Folgen. Plötzlich taugen bildungsbürgerliche Distinktionsmerkmale vorgeblicher Fachkompetenz nichts mehr. Solche Musiken sind nicht mehr geeignet, um sich als halbkompetente Gruppe goutierend und bewertend zu formieren, von anderen weniger kompetent erscheinenden Gruppen zu distanzieren und aus dieser Scheinkompetenz für sich gesellschaftliche Relevanz zu ziehen. Platt-banale Äußerungen à la „Also, ich fand’s toll!“ eignen sich nicht mehr zur argumentativ-fachlichen Debatte, mit der man gesellschaftliche Hierarchien definieren kann. Selbst kompetentere Reflexionen haben nicht mehr den Wert einer formierenden Gruppendefinition, der Musikkonsum, die Wahrnehmung und Bewertung musikalischer Aktionen wird zunehmend individualistischer. Hierin liegt gleichzeitig auch eine Chance, nämlich in der Stärkung von Live-Aufführungen. Insbesondere Neue Musik wird oft als interessant bezeichnet, wenn man die Ausführenden bei der „Herstellung“ beobachten kann. Tonträger werden zunehmend irrelevanter (das gilt für den gesamten Musikmarkt, abgesehen von der kleinen Retroschiene der Vinyl-LPs), der Rundfunk insbesondere als Förderer von Neuer Musik gleitet hier zunehmend ins Abseits, weil das affizierende Element einer Liveperformance – und dieses Element ist in der Rezeption heute ein wichtiges, wenn nicht sogar das wichtigste – vom Rundfunk nicht transportiert werden kann.

Gleichzeitig drohen Liveperformances angesichts dieses Bedarfs nach Affizierung oberflächlich zu eventisieren. Denn das andächtige Publikum, das geprägt von Kennerschaft sich selber darstellt, ist ein bürgerlicher Topos, der nicht mehr zukunftsweisend ist. Die kulturprotestantische Gottesdiensthaftigkeit eines Konzerts – oben die Hohepriester, unten die weihevoll lauschende Gemeinde, die tradierte Abfolge inklusive „Blumen rein – Blumen raus“ und ein bis zwei Zugaben am Ende, die einer genauen, nur den Eingeweihten bekannten Liturgie (wann darf geklatscht werden?) folgt, wirkt in ihrer exkludierenden Struktur mittlerweile überholt. Das „Aushalten können“ von Kultur ist auch kein Ziel mehr (selbst Bayreuth verliert an Strahlkraft). Dagegen müssen Konzerte heute zunehmend das subjektive Erleben und die Erlebnisemotionalität pflegen, weil die neuen gesellschaftlichen Leitmilieus Ansprüche an die Erlebnisorientierung als Teil ihrer Selbstentfaltungsideologie formulieren. Hier eine Balance zu finden, dürfte für Veranstalter in naher Zukunft das Hauptproblem darstellen.

Geschichte der Originalität

Parallel zum Aufschwung in Wissenschaft und Industrie wurden Erfindungen zunehmend kapitalisiert. Sie mussten vor Nachahmung geschützt werden, wobei solche Mechanismen schon in der Antike bekannt waren und in Europa seit dem 15./16. Jahrhundert Verbreitung fanden. Lange Zeit war im künstlerischen Bereich die handwerkliche Qualität entscheidender als die Originalität der Erfindung. Der Originalitätsgedanke hat sich erst ab dem 18. Jahrhundert etabliert. Nach Vorläufern zum Schutz des geistigen Eigentums 1867 beziehungsweise 1871, gab es in Deutschland erst ab 1903 mit der GEMA-Vorläufergesellschaft AFMA einen Urheberrechtsschutz für Kompositionen. Insbesondere Richard Strauss war hier federführend, sicherlich auch mit eigenem fiskalischen Interesse. Wenn jetzt die Originalität eines spezifischen Einfalls vor dem Hintergrund historischer Entwicklungslinien irrelevanter wird und künstlerische Produktion sich zunehmend an der Rekombination vorhandenen Materials orientiert (Historie als „Steinbruch“), was ist dann mit dem Urheberrecht? Wird die bisherige Konstruktion auf längere Sicht nicht überflüssig? Erst recht, wenn auch hier weitergehend Haltungen zu verzeichnen sind, wie im Bereich der IT-Wirtschaft mit der OpenSource-Bewegung? Wikipedia als offenes Lexikon ist hier als Beispiel zu nennen. Bildmaterial gibt es im Netz zuhauf, mit dem man unendlich neue Arrangements vornehmen kann. Die KI kann auch nur das rekombinieren, was es schon gibt. Junge Komponistinnen und Komponisten geben zunehmend Noten frei weiter, Einnahmen werden dann überwiegend aus Aufführungen generiert. Warum sollte man noch den altmodischen Weg über Verlage gehen, wo man erst Noten kaufen muss, die dann doch kos­tenfrei digital kopiert weiterverbreitet werden, erst recht, wenn man auf dem Notenpult keine gedruckten Noten mehr hat, sondern iPads?

Was ist, wenn nicht mehr das Einzelgenie im stillen Kämmerlein komponiert, sondern ähnlich bereits wie in der Bildenden Kunst Kollektive kreativ werden? Was ist mit situationistischen Konzepten, die vielleicht in Realtime auf die Zuhörerschaft reagieren? Ist das überhaupt noch nach bisherigen Maßstäben ein „Werk“? Das Ende des bürgerlichen Zeitalters beendet eben auch Gegebenheiten und Gewissheiten im Bereich der Kultur, die als ehern und unumstößlich galten. Zum Beispiel wird sich der „Ewigkeitsanspruch“ herausragender Werke (Bachs h-Moll-Messe, Mozarts „Don Giovanni“, Beethovens 5. Sinfonie et cetera) im Rahmen des bürgerlichen Kulturuniversalismus auch in einigen Jahrzehnten in Luft auflösen. Gleiches gilt für das angeblich „a priori“-Universale der bürgerlichen Kultur, das es so nicht gibt, sondern nur an das Bürgertum – egal ob Bildungs- oder Groß bürgertum – als soziales Leitmilieu gekoppelt als Distinktions- und Herrschaftsinstrument vorhanden war.

Ich gehe davon aus, dass in den kommenden Jahrzehnten eine völlige Neuorientierung erfolgen wird. Vielleicht wieder zurück in vorbürgerliche Zeiten, wo der „Künstler/Komponist“ eher Handwerker war? Zumindest wird in Zeiten der Allverfügbarkeit von Optionen und deren Rekombinationen das handwerkliche Können einen deutlich höheren Stellenwert bekommen gegenüber der genialischen Originalität – wobei kapitalistische Verwertungslogiken auch hier noch stärker greifen werden.

Gerade KI wird Gebrauchsmusik (Pop, Film et cetera) inflationieren, als qualitativ eher fragwürdiges, mittelmäßiges Grundrauschen. Für die meis­ten Leute ist Musik zwar wichtig, aber eben nur als Hintergrundtapete zur Erzeugung positiver Emotionen (der alte Adel lässt grüßen) oder als Auslöser kurzzeitiger starker Gefühle (Eventisierung). Die Planierung von Unterschieden zwischen Hoch- und Populärkultur in den neuen, in Zukunft tonangebenden sozialen Mili­eus – die laut Reckwitz „neue Mittelklasse“ –, wird gerade die Tempel der „alten“ Hochkultur (Opern- und Konzerthäuser, Theater, Museen, Galerien et cetera) vor massive Legitimationsprobleme stellen.

Was jetzt?

Im Alltag basaler Instrumentalpädagogik ist diese Gleichsetzung bereits auf breiter Front angekommen (Clementi neben Einaudi). Wann reagieren die Ausbildungsinstitute auf ­solch veränderte Rahmenbedingungen? Brauchen wir noch Ausbildungen althergebrachter Art oder muss auch hier ein völliger Neuanfang modelliert werden? Pierre Boulez wollte noch Opernhäuser sprengen, vielleicht sollten heute Konservatorien (welch ein Name in diesem Kontext!) und deren Anverwandte gesprengt werden? Die gesellschaftlichen Veränderungen im Sinne eines Endes des bürgerlichen Zeitalters werden gravierend sein.
Wie werden wir Kulturschaffende damit umgehen? Denn ein „weiter so“ der bestehenden Strukturen im Kulturbetrieb – was auch Verbände und ähnliche Institutionen betreffen wird – sehe ich nicht, dafür sind die Umwälzungen zu tiefgreifend. Wie kann sich Kultur neu erfinden, wenn die Regeln und Gewissheiten der vergangenen 250 Jahre binnen weniger Jahrzehnte abgeräumt werden? Hierüber wäre jenseits angstbesetzter Besitzstandswahrungsabwehrreflexe offen zu debattieren. Be creative!
 

Weiterlesen mit nmz+

Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.

 

Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50

oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.

Ihr Account wird sofort freigeschaltet!