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Die Deutsche Mark, der 2 CV und der Henle-Verlag – 50jährige Jubiläen haben derzeit Konjunktur. Und die blauen Urtext-Ausgaben gehören zu den Erfolgsstorys des Jahres 1948. Doch anders als Mark und Ente blickt der Henle-Verlag zuversichtlich in die Zukunft.
Der Gründer, Dr. Günter Henle (1899-1979) war zwar von Beruf Industrieller und Diplomat, aus Berufung aber Musiker. Obwohl er sich trotz seiner großen musikalischen Begabung nicht zu einer Musikerlaufbahn entschlossen hatte, ging seine Leidenschaft für die Musik auch im Berufsleben nie verloren. Er tauschte oft und gerne das diplomatische Parkett mit dem Konzertpodium, vor allem aber pflegte er engen Kontakt mit vielen großen Musikern. Aus deren und seiner eigenen musikalischen Praxis erwuchs ihm die Einsicht, „daß man für die unverfälschte Bewahrung der großen Werke der Tonkünstler ‚Urtexte‘, das heißt von allen willkürlichen Zutaten und Änderungen der Herausgeber gereinigte Texte, benötigt, und daß solche Texte auch als Grundlage einer selbständigen künstlerischen Wiedergabe unerläßlich sind“. Der Zustand des Verlagsstandortes Deutschland nach dem Krieg gab den Anstoß zur Verwirklichung dieser Idee: Am 3. Oktober 1948 wurde der G. Henle-Verlag gegründet, die Idee des Urtextes, das Markenzeichen des Verlages war geboren. Was ist ein Urtext? Zugrunde liegt die Idee, dem Spieler einen philologisch gesicherten Notentext vorzulegen, der weitestgehend dem Willen des Komponisten entspricht. Diese so einfach klingende Forderung erweist sich oft als schwer durchführbar. Um diesen letzten Willen des Komponisten fassen zu können, ist es notwendig, sich über die Überlieferung eines Werkes klar zu werden, brauchbare Quellen von unbrauchbaren zu scheiden und nach dieser Aussonderung aus den verbliebenen Texten den „Urtext“ herzustellen. Dies setzt fundierte musikalische und wissenschaftliche Arbeit voraus. Wichtig ist, daß dem Benutzer über diese beiden Vorgänge, Quellenkritik und Textkritik, und die jeweiligen Entscheidungen Rechenschaft abgelegt wird. Dazu dient der sogenannte Kritische Bericht, der jeder Ausgabe beigegeben ist. Den Beginn der Ausgaben machten bald nach der Gründung Schuberts Impromptus und Mozarts Klaviersonaten, 1973 war die Zahl der Veröffentlichungen auf 250 angestiegen, 1998 verzeichnet der Katalog über 600 Titel im Urtext, mit dem neuen Zweig der Studienedition. Die anfängliche Beschränkung auf Klavier- und Kammermusik des 18. und 19. Jahrhundert spiegelt zum einen den „klassischen Werkkanon“, zum anderen aber den Unternehmergeist Henles wider. Hier lag die Chance auf einem Markt mit regelmäßiger Nachfrage qualitativ hochwertige Erzeugnisse zu produzieren. Auf dieser Basis war es dann möglich, auch Werke anderer Komponisten mit demselben editorischen Anspruch zu veröffentlichen. Die Idee, dem Interpreten einen von Herausgeberzutaten gereinigten Notentext zu bieten, war für die damalige Zeit etwas völlig Neues. Wie groß jedoch der Bedarf war, läßt sich an der großen Zahl von Briefen führender Künstler aus aller Welt ablesen. Sicherlich haben in der Frühphase Henles Persönlichkeit und sein enger Kontakt zu den Musikern zu der schnellen Akzeptanz beigetragen, im Nachhinein läßt sich aber konstatieren, daß die Urtext-Ausgaben die verlegerische Praxis grundlegend verändert haben. Es war einfach die richtige Idee zur richtigen Zeit. Der Henle-Verlag wurde früh auch mit der Edition von Gesamtausgaben betraut. Wie wichtig und selbstverständlich für Henle das Engagement auf diesem Gebiet war, wird aus seinen Worten ersichtlich, mit denen er in seiner Autobiographie lapidar die Initiierung der bis dahin fehlenden Haydn-Gesamtausgabe schildert: „Um diesem wirklichen musikalischen Notstand abzuhelfen, gründeten wir 1955 das Joseph-Haydn-Institut in Köln.“ Bald wurde auch die Beethoven-Gesamtausgabe übernommen, weitere wissenschaftliche Editionen wie ein Teil der Reihe „Das Erbe deutscher Musik“ traten hinzu und zuletzt die neue Brahms-Gesamtausgabe. Es blieb nicht lange beim reinen Notenverlag. Anfangs begleitend zu den wissenschaftlichen Ausgaben, später immer eigenständiger wurde ein musikwissenschaftliches Buchprogramm aufgebaut. Mit als erstes das bahnbrechende Beethoven-Werkeverzeichnis, der „Kinsky-Halm“, nicht minder wichtig die Werkverzeichnisse von Brahms und Chopin, die alle zu Standardwerken der Musikwissenschaft wurden. Heute findet man im Katalog die „Veröffentlichungen des Beethoven-Hauses“, die „Haydn-Studien“, die „Kataloge Bayerischer Musiksammlungen“ (KBM), Kongreß-Berichte und die systematische Reihe des RISM. Jüngste große Veröffentlichung ist der Briefwechsel Beethovens, der demnächst auch als CD-Rom vorgelegt wird. Dieser Bereich, das „electronic publishing“ wird in Zukunft immer wichtiger werden. Gerade für Nachschlagewerke wie Quellen- und Werkverzeichnisse erscheint die Verwendung computergestützter Medien sinnvoll. Als einer der ersten deutschen Verlage bot Henle außerdem seinen gesamten Katalog mit Online-Bestellmöglichkeit im Internet an. ( http://www.henle.de/ ) Doch auch beim Notensatz löst der Computer den traditionellen Notenstich ab, schon heute wird ein großer Teil der Verlagsproduktion auf diesem Wege hergestellt. An der Verbesserung wird ständig gearbeitet, denn gerade auf den Notenstich hatte der Gründer großen Wert gelegt, da ein „gestochen scharfes“ Notenbild, gemeinsam mit überlegter Plazierung des Textes (Wendestellen!) die Brauchbarkeit eines Notenbandes entscheidend mit beeinflußt, ganz zu schweigen von der äußeren Verarbeitung eines Bandes. Hier liegt auch die Chance der traditionellen, gedruckten Noten: Es musiziert sich einfach besser aus einem innen wie außen gut gemachten (blauen) Notenband.