Wer als Teenager in einer Band oder in einem Orchester spielt, erfährt frühzeitig, dass insbesondere in kleinen Ensembles alle Mitglieder kreative Beiträge leisten müssen. Am Anfang wird meistens nach einem originellen Bandnamen gesucht, bei ersten Erfolgen die Idee für ein Tournee-Plakat. Später braucht die neue Platte ein Cover, eine Hitmelodie ihren Refrain und der Agent ein paar persönliche Kontakte, auf die er aufbauen kann. Der Musikalltag fordert schon von jungen Menschen rund um die Uhr kreative Problemlösungen und die Ansprüche steigen mit zunehmender Professionalisierung. Umso mehr erstaunt, dass selbst bei Profis über drei viertel aller bahnbrechenden Ideen außerhalb der Arbeitszeit zustande kommen!
Die folgenden Erläuterungen zum aktuellen Stand der Gehirnforschung und Übungen rund um das Thema Kreativitätstechnik sollen Ihren geistigen Output beschleunigen helfen und negativen krankmachenden Stress („Hoffentlich fällt mir was ein...“) in gesunden Stress („Ich kann mich auf meinen Einfallsreichtum verlassen!“) verwandeln.
Jedem Menschen auf dem Planeten Erde stehen unterschiedslos rund 1.000.000.000.000 Gehirnzellen (Neuronen) zur freien Verfügung. Neuronen haben einen Zentralkörper und viele lange Arme, die sich bis zu 1,5 Meter Länge durch das Gehirn winden. Jedes Neuron kann pro Sekunde Hunderttausende von Impulsen empfangen und senden. Die Managementtrainerin Vera F. Birkenbihl spricht aus, warum viele Menschen trotz ihres fast unbegrenzten Gehirnpotentials an Kreativaufgaben scheitern. Birkenbihl beschreibt den Kern unseres Problems als „Denkrinnen“, in deren Bahnen die Gedanken auf Grund von Erfahrungen oder Gewohnheiten wie Murmeln kreisen. Wir können uns diese Tendenz mit einem kleinen Experiment verdeutlichen.
Übung 1: Das Neun-Punkte-Problem (5–10 Min.)
Zeichnen Sie sich neun Punkte in der dargestellten Art und Weise auf ein Blatt Papier. Ihre Aufgabe wird es nun sein, diese neun Punkte mit vier Geraden zu verbinden, die ohne abzusetzen gezogen werden müssen.
Grafik 1: Quelle: Watzlawik, P., Weakland, J.H., Fischer, R.: Lösungen. Zur Theorie und Praxis menschlichen Wandels, Bern 1992
Die Lösung des Problems entsteht durch einen Kunstgriff, denn einige Geraden müssen außerhalb des Quadrates verlaufen. Die Mehrzahl der Betrachter geht implizit davon aus, dass die Geraden innerhalb des Quadrates gezogen werden müssen, ihre Wahrnehmung führt zu dem Ergebnis, dass keine Lösung möglich ist. Nur wenn die Annahmen, also die Regeln hinterfragt werden, ist die Problemlösung (siehe Seite 8) relativ einfach.
Fast alle Menschen lernen bereits als Kleinkinder die Überbetonung logischen Denkens. Unser Schulsystem wiederspricht wissenschaftlichen Erkenntnissen, weil es die Aufteilung unseres Gehirns in zwei unterschiedliche, sich perfekt ergänzende Hälften ignoriert.
Rechts: Links:
Rhythmus Worte Raumbewusstsein Zahlen
Gestalt Logik Vorstellungsvermögen Folgen Mehrdimensionalität Linearität
Wachträume Analyse
Farben Listen
Eine Vorlesung über die Kompositionstechnik Strawinskys würden Musikstudenten überwiegend im Wortlaut mitzuschreiben versuchen. Diese Methode setzt voll auf die Leistungen der linken Gehirnhälfte. Es verwundert nicht, warum der halbe Hörsaal der Schlafkrankheit verfällt. Die Studenten arbeiten unbewusst gegen ihre Gehirn. Ihre Notizen verschleiern Schlüsselworte des Textes, ihre halbhypnotischen Handlungsrituale erschweren das Erinnern.
Übung 2: Aufzeichnung unter Nutzung beider Gehirnhälften (15–20 Min.)
Nehmen Sie sich ein Blatt Papier und rekapitulieren Sie schriftlich das in diesem Kapitel bisher erfahrene Wissen. Schauen Sie nicht in den Text, sondern benutzen Sie Ihre Erinnerung! Malen Sie Bilder und Symbole, notieren Sie Schlüsselwörter, Verbindungslinien, kurze Aufzählungen und einzelne Zitate, die Ihnen in Erinnerung geblieben sind. Einem besonders fröhlichen Seminarteilnehmer kam bei dieser Übung ein Tintenfisch als Bild für eine Gehirnzelle in den Sinn. Auf seinem Papier skizzierte er die Kulisse des Beatles-Hits „Octopus’s Garden“, in dem ein Tintenfischprofessor vor vielen kleinen ineinander verschlungenen Tintenfischkindern an einer Kreidetafel umherwabernde Schlüsselbegriffe einsammelt.
Der englische Gehirnforscher Tony Buzan vermochte bereits in den 60er- Jahren aus den vorangegangenen Erkenntnissen eine ganz außergewöhnliche Kreativitätstechnik zu gewinnen. „Mind Mapping“ berücksichtigt die Tendenz unseres Gehirns assoziativ und aufbauend zu arbeiten, Verbindungen herzustellen zwischen Utopien und Barrieren, privatem und beruflichem, Zukunft und Vergangenheit, Konzepten und Gefühlen. Beim „Mind Mapping“ agiert und reagiert unser Gehirn mit Farben, Formen, Skizzen, Symbolen.
Übung 3: „Mind Mapping“ (Grundstufe, 5 Min.)
Nehmen Sie sich bitte ein Blatt Papier und zehn unterschiedliche Farbstifte zur Hand. Schreiben Sie in die Mitte des waagerecht ausgebreiteten Blattes den Begriff „Konzert“ und ziehen Sie einen schmalen Kreis darum. Die weitere Aufgabenstellung besteht nun darin, zehn von diesem Kreis ausgehende unterschiedlich farbige „Arme“ zu ziehen, auf denen jeweils eine persönliche Assoziation zum Thema „Konzert“ in Großbuchstaben aufgetragen wird (zum Beispiel „Lightshow“). Legen Sie keine Pause ein, egal wie lächerlich Ihnen einzelne Begriffe scheinen mögen (Beispiel siehe S. 8!).
Im nächsten Schritt machen wir uns die Kraft der Bilder, also der rechten Gehirnhälfte, zu Diensten. Kennen Sie das? Sie begegnen auf einer Musikmesse einem Menschen, dessen Gesicht sie sofort erkennen, aber ihnen fällt partout weder der Name noch die berufliche Stellung ein? Das Wiedererkennen von Bildern ist beim Menschen im wesentlichen perfekt ausgebildet und zwar geradezu grenzenlos.
Übung 4: „Mind Mapping“ (Aufbaustufe, 15–20 Min.)
Nehmen Sie sich ein neues Blatt, in dessen Mitte sie den Begriff „Bühne“ auftragen. Ziehen Sie erneut zehn bunte „Arme“, auf die Sie diesmal keine Begriffsassoziationen, sondern zehn Bilder oder Symbole aufmalen. Indem wir nun Übung 3 und Übung 4 kombinieren und erweitern, nähern wir uns dem Lernziel des Kapitels, der Einübung der erweiterten Kreativitätstechnik des „Mind Mapping“. Die Abschlussübung wird darin bestehen, eine konkrete Aufgabenstellung zu lösen und sich damit des Nutzens für alltägliche Arbeiten bewusst zu werden. Um die Aufgabe für eine breite Leserschaft interessant zu machen, biete ich die Wahl zwischen zwei Themengebieten.
Übung 5a: „Mind Mapping“ Konzertpräsentation (30–40 Min.)
In die Mitte des Blatts kommt der Name Ihres nächsten Konzerttermins (etwa „Beethovenhalle, 3. Dezember“). Schreiben Sie zehn Musiktitel, die Sie voraussichtlich bei diesem Konzert ansagen werden, als erste Assoziationskette auf. Hängen Sie an jeden Titel neue Assoziationen an. Was können Sie zu diesem Titel erzählen (wann komponiert, Hintergrundgeschichte, persönliche Erinnerungen etc.)? Malen Sie Leitbilder zu den Songs.
Übung 5b: „Mind Mapping“ Telefongespräch (20–30 Min.)
In die Mitte des Kreises kommt der Name eines besonders schwierigen bevorstehenden Telefongesprächs (beispielsweise „Vertragsstreitigkeit Fa. Starr“). Schreiben Sie zehn Assoziationen zu dem bevorstehenden Telefongespräch auf, die sowohl Sach- als auch Gefühlsinhalte betreffen. Hängen Sie nun an jede dieser Assoziationen neue spontane Gedanken und Gefühle an, durchleben Sie das Telefongespräch in allen denkbaren Verläufen und aus allen Blickwinkeln die Ihnen durch den Kopf schießen. Malen Sie Leitbilder zu den Gesprächsverläufen (zum Beispiel enthaltene Personen, Problemlösungen oder Gesichtsausdrücke). Selbst in den Spitzenpositionen der Wirtschaft werden nur etwa ein Prozent aller Einfälle durch Kreativitätstechniken produziert. Dabei steht uns mit „Mind Mapping“ bereits heute eine einfache Technik zur Verfügung, mit der sich eine Tournee vorbereiten, ein Raptext oder eine Rede schreiben und eine PR-Aktion planen lässt.
Literaturhinweise:
- „Das Mind-Map-Buch. Die beste Methode zur Steigerung Ihres geistigen Potenzials“, Tony Buzan, Ueberreuter 2002, € 24,90
- „Kreativitätstechniken. Kreative Prozesse anstoßen - Innovationen fördern. Die K7“, Hendrik Backerra, Hanser 2002, € 9,90
- „Stroh im Kopf. Vom Gehirn-Besitzer zum Gehirn-Benutzer“, Vera F. Birkenbihl, Ueberreuter 2002, € 8,90