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Wege und Irrwege

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Neue Tendenzen der Vermarktung
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Zwei Tendenzen sind in den letzten Jahren im Bereich der internationalen Schallplattenproduktion zu beobachten. Zum einen haben besonders die großen Firmen auf sinkende Verkaufszahlen reagiert – und in diesem Zusammenhang auch auf ein viel zu breit gefächertes, zum bedeutenden Teil völlig uninteressantes Neuheitenrepertoire! –, zum anderen sind sie emsig darangegangen, ihre alten Bestände zu sichten und dem Musikfreund in preisgünstigen Serien gleichsam schmackhaft zu gestalten.

Zur Tendenz Nummer eins ist hinzuzufügen, dass sich viele der exklusiven oder berechnend von Label zu Label springenden Künstler noch bis in jüngste Zeit wenig Gedanken gemacht haben, ob ihre medialen Arbeitgeber auch wirklich das Geld hereinspielten, was ihre Aufnahmen und ihre Wenigkeit persönlich kosteten. Immer wieder wurden – so etwa bei Sony, als man mit Gewalt der Konkurrenz den Rang ablaufen wollte und entsprechend Stars einkaufte – Verträge abgeschlossen, die den Solisten und Ensembles zahlreiche Produktionen und gute Honorare garantierten, indes im Schallplattenladen und im Fachversand erhebliche Einbußen verzeichneten. Selbstverständlich hing und hängt dies nicht nur mit einem gewissen Abnutzungseffekt selbst bedeutender Künstlerpersönlichkeiten zusammen. Vor allem die etwas älteren Musikfreunde haben sich längst mit den wichtigsten Titeln des sogenannten Klassik-Repertoires eingedeckt. Es macht selbst für spezialisierte Freizeithörer kaum noch Sinn, sich die vierte, fünfte Version von Beethovens Emperor-Klavierkonzert zu besorgen, es sei denn, Carlos Kleiber hätte sich erbötig gezeigt, den Stab zu führen und womöglich noch Swiatoslav Richter überreden können, im hohen Alter jene Skepsis gegenüber dem populären Stück zu überwinden, für die ihn viele Bewunderer lieben, andere wiederum mit liebevoller Schelte bedacht haben.

Der Kunde also darf als versorgt betrachtet werden. So folgt er in seinem Selektions- und Kaufverhalten einem ganz einfachen Prinzip: Er nimmt jene Produktionen mit Freude zur Kenntnis, auf die man eine Zeit lang mit großer Spannung wartet. Ein riesiger Plattenausstoß jeden Monat mit Opern-, Lied-, Kammermusik-, Konzert- und dann noch einigen Crossover-Veröffentlichungen hingegen lässt den Konsumenten abstumpfen, zumal er ja – wie schon erwähnt – schon längst einige diskografische Sternstunden sein eigen nennt. Mit ihnen ist er aufgewachsen, zu ihnen und zu den betreffenden Interpreten hat er eine Beziehung aufgebaut. Er wird dem alten Furtwängler, dem unvergleichlichen Fritz Wunderlich verbunden bleiben. Er wird der unnachahmliche Maria Callas, den unvergänglichen Richter-Aufnahmen der 60er-Jahre und Arturo Benedetti Michelangelis Einspielung des g-Moll-Konzerts von Rachmaninoff nicht untreu werden, nur weil bei Philips oder bei RCA heftig mit der Reklamefahne des Sensationellen gewinkt wird, wenn wieder einmal ein Jahrhunderttalent auf seine steile, aber zumeist sehr kurze Erfolgsstrecke katapultiert wird. Auf dem Sektor Repertoire-Erweiterung – gemeint ist die Ausdehnung des literarischen Spektrums bis weit hinter das musiklexikalische Komma – haben die potenten Firmen unterdessen eine erstaunliche Entwicklung übersehen, wenn nicht gar verschlafen. Man muss ihnen dabei zugute halten, dass sie ihren führenden Interpreten nur in Ausnahmefällen Nebenschöpfungen schmackhaft machen konnten.

Dem oben skizzierten Musikfreund mit gut gefüllter Diskografie stand jedoch in den letzten Jahren mehr und mehr der Sinn nach Horizonterweiterung. Er wollte sich stärker über parallele musikgeschichtliche Entwicklungen, über vergessene, unterschätzte, zu Unrecht abgelehnte Stücke informieren. Und dabei kam es ihm gar nicht so sehr darauf an, große Namen auf der Plattenhülle zu lesen. Solide, zuverlässige Ensembles, Sänger und Instrumentalisten genügten vollkommen, abgesichert durch gründliche Instruktionen in den Begleitheften. Diese Entwicklung hat sich bis zum heutigen Tag so intensiviert, dass zwei Produzenten – nämlich Naxos und Arte Nova – mit aller Kraft die Katalogerweiterung favorisieren. In deren Direktionen geht man davon aus, dass der Musikfreund neuerer Prägung – also längst versorgt mit den bedeutenden Leistungen der Plattenbranche – vor allem nach Kriterien der Repertoireerkundung ordert. Wohl ihm, wenn er mit Seltenheiten, mit Erstaufnahmen nach Hause geht und zum Sondertarif auch noch gute, zuweilen sogar herausragende Interpretationen sein eigen nennen darf, wie das bei Arte Nova zuweilen, bei Naxos erstaunlich häufig der Fall ist.

In diesem Reizklima konservativer Künstlertreue und literarischen Abenteuertums mögen die Strategen der großen, begreiflicherweise in ihrem marktspezifischen Taktieren schwerfälligeren Firmen erkannt haben, wie kostengünstig sie ihr altes Repertoire aktivieren könnten. Und dies sicher auch im Hinblick auf jüngere Käuferschichten, denn ihnen kann man auf diesem Weg nicht nur ein wenig Nostalgie unter die Ohren reiben, sondern auch zeigen, zu welchen Leistungen Künstler und Industrie in den ersten drei Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg, also an der Schwelle von der Mono- zur Stereo-Epoche, fähig waren. Die Idee, den entsprechenden CD-Publikationen das altertümliche Outfit der alten Langspielplatten wenigstens in stilisierter grafischer Aufmachung mitzugeben, dürfte bei weiten Kreisen Anklang gefunden haben. So ähneln die CDs der Originals-Serie (Deutsche Grammophon) miniaturisierten Langspielplatten. Auf der Cover-Vorderseite wird man an die Erstausgabe der betreffenden Aufnahme erinnert. Für viele Hörer scheint der Hinweis auf die alte Langspielplatte auch insofern vertrauensbildend zu sein, als sie der kühlen, sterilen Compact Disc immer wieder mit Misstrauen begegnen. Die Musik – so das stereotype Argument – werde zerhackt, aufgespalten, während die LP ein harmonischeres, organischeres Hörerleben garantiere, ungeachtet der Laufgeräusche und der unvermeidlichen Abnutzung des Abspielgeräts und der Vinylscheiben selber. Ausführliche Tests mit Verfechtern dieser Überzeugungen haben gezeigt, dass sie sich offenbar von alten Hörgewohnheiten und den damit verbundenen Wunschvorstellungen leiten lassen. Ähnlich wie die stampfende, lebende Dampflokomotive im Vergleich zur mechanisch uninteressanten E-Lok, so scheint auch die komplizierte Beweglichkeit des herkömmlichen Plattenspielers eine interessantere, ja mehr noch: eine dem Menschen angemessenere Hörerfahrung zu ermöglichen. Die Publikationen der Originals-Reihe und in Konkurrenz zu diesen DG-Editionen etwa auch die Legacy-Alben bei Teldec fördern solche Vergangenheitsverklärungen auf der abspieltechnischen Ebene, sie ermöglichen aber auch ganz einfach, ein zumeist beschädigtes Plattenrepertoire durch moderne Software zu ersetzen.

Zum Zuge kommt bei den Originals alles, was bei der Deutschen Grammophon Rang und Namen hat. Reichlich vertreten natürlich die Dirigenten Herbert von Karajan, Karl Böhm, Ferenc Fricsay, Lorin Maazel, Carlo Maria Giulini und Carlos Kleiber, aber auch eine Kapazität wie Igor Markevitch, dessen Leistungen aus den 50er-Jahren bei einem breiten Publikum in Vergessenheit geraten sind, erhält hier die Chancen medialer Auferstehung. Für den Fachmann sind begreiflicherweise solche Originals von Reiz, die Mono- und frühe Stereo-Aufnahmen enthalten, die bislang noch nicht auf CD herausgekommen sind.

Im Wettstreit mit den Originals der Deutschen Grammophon liegt die Sony-Reihe Essential Classics mit wertvollen Programmen der großen CBS-Künstler von einst (darunter Zino Francescatti, Leon Fleisher, Bruno Walter, George Szell). Doch man beschränkt sich bei den maßgebenden Firmen im Wiederaufbereitungslabor längst nicht auf historisierende Verpackung kostbarer musikalischer Inhalte. Eine Fülle von Billigpreispaketen – sporadisch ergänzt – füllt die Kataloge und Regale der Geschäfte, sodass man wirklich den Eindruck gewinnt, die Produzenten bereiteten mit ihren Repliken den aktuellen Neuerscheinungen mehr Konkurrenz als den Künstlern und der Finanzbuchhaltung eigentlich lieb sein könne. Bei Teldec ist es eine Digital Experience-Serie, bei der Schwester-Firma Erato heisst sie Classical Experience. Decca wirbt mit Projekten wie Double Decca und Boucquet um den Hörer, die Deutsche Grammophon offeriert ihre gängigen, zum Teil aber auch Originals-Titel unter dem Motto Galleria.

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