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„Wir haben uns das Revier aufgeteilt“

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Die Musikszene in Leer (Ostfriesland) und ihre gelungenen Kooperationennen Kooperationen
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Den Nordwesten der Republik füllt fast vollständig Ostfriesland. Geografisch ver-rückt, wie es scheint. Eingeweihten ist jedoch bekannt, dass der friesische Westen zu den Niederlanden gehört. Durch den Dollart, den Mündungstrichter der Ems, zieht sich die Grenze, und zu deren beiden Ufern ist der Landkreis Leer gelegen. Dort leben zirka 180.000 Menschen. Die Stadt Leer mit rund 34.000 Einwohnern befindet sich in der Gabelung der von Deichen gesäumten Flüsse Ems und Leda. Nicht eindeutig sind die Ursprünge des Namens, aber sowohl lateinisch „hleri“ als auch germanisch „lar“ bezeichnen agrarwirtschaftliches Gebiet: Leer und Umgebung machen einen nicht gerade aufstrebenden, aber adretten Eindruck.

Den Nordwesten der Republik füllt fast vollständig Ostfriesland. Geografisch ver-rückt, wie es scheint. Eingeweihten ist jedoch bekannt, dass der friesische Westen zu den Niederlanden gehört. Durch den Dollart, den Mündungstrichter der Ems, zieht sich die Grenze, und zu deren beiden Ufern ist der Landkreis Leer gelegen. Dort leben zirka 180.000 Menschen. Die Stadt Leer mit rund 34.000 Einwohnern befindet sich in der Gabelung der von Deichen gesäumten Flüsse Ems und Leda. Nicht eindeutig sind die Ursprünge des Namens, aber sowohl lateinisch „hleri“ als auch germanisch „lar“ bezeichnen agrarwirtschaftliches Gebiet: Leer und Umgebung machen einen nicht gerade aufstrebenden, aber adretten Eindruck. Insbesondere die Erkundung der lokalen und regionalen Musikszene hält manche Überraschung bereit. Denn es gibt fünf Institutionen, die Konzerte in allen Musiksparten anbieten, einen international renommierten Orgelbauer, das Organeum in Weener und, damit verbunden, das Dollart-Festival.

Birgitta Heller, Leiterin des Zollhauses, erläutert: „Wir haben in Leer den Glücksfall, dass wir uns das Revier aufgeteilt haben. Die Veranstalter haben sich zusammengesetzt und besprochen: wer macht was? Und so verteilt sich seitdem der Kuchen: im Jugendzentrum sind aktuelle Trends wie HipHop et cetera auf dem Programm; die Volkshochschule organisiert im Kulturspeicher hochkarätige Jazzkonzerte; das „Taraxacum“ konzentriert sich auf die Folkszene und das Zollhaus bedient die Liedermacher sowie Rock- und Bluesszene. Unser Credo ist: Wir tragen zu einem ausgewogenen Programm in der Stadt Leer und Umgebung bei. Ich meine, das ist ein guter Weg in so einer kleinen Stadt, denn ein ruinierender Wettbewerb ist für keinen nützlich. Stattdessen ist in Leer eine Kooperation gelungen, bei der keiner dem anderen das Wasser abgräbt.“

Das Zollhaus

Direkt neben dem Bahnhof steht das (ehemalige) Zollhaus, jetzt das einzige nicht subventionierte Kulturzentrum der Region. Es wird seit acht Jahren von einem Verein, der ein besonderes Interesse am Erhalt dieses Gebäudes hat, betrieben. Dazu gehören auch Radio Ostfriesland mit je einem Studio für Leer, Emden und Aurich, ein Zollhaus- (Theater-)Ensemble und regelmäßige Ausstellungen. Auf dreieinhalb feste Stellen ist die Organisation, die Buchhaltung, Pressearbeit und auch Renovierungen verteilt, und der gesamte finanzielle Bedarf wird selbst erwirtschaftet. Und zwar durch Parties und andere kommerzielle Veranstaltungen, die Risiken von Engagements prominenter und auch weniger bekannter Musikgruppen abpolstern. Zu diesen Konzerten kommen durchschnittlich etwa 300 Personen, während bei Parties sich bis zu 800 Personen in der großen Lagerhalle amüsieren können. Die Besucher kommen aus der Stadt und dem Kreis Leer, sehr wenige aus Holland. Wobei gerade das Ausgehverhalten und die Kommunikation der Jugendlichen sich in den letzten Jahren stark verändert hat. Die meisten Besucher sind älter als 30 Jahre. Entsprechend sind die Programme auf diese Zielgruppe zugeschnitten: Die Rockmusik der 70er-Jahre und deutsche Stars, wie etwa Nina Hagen. Zusammen mit dem Pumpwerk in Wilhelmshaven und der Kulturetage in Oldenburg gehört das Zollhaus zu den etablierten Kulturzentren im Weser-Ems-Gebiet.

Aus den üblichen Festzelten raus auf die Straße, von Kneipe zu Kneipe gehen die Besucher mit einem Einlassband für alle Konzerte, wenn sie bei „Leer Pur – 15 Bands“ als „Internationales Live Musikfestival“ erleben. Berndt Leemhuis hatte vor rund 20 Jahren die Idee, Musik für die Gastronomie zu organisieren, bisher vor allem in den Städten Niedersachsens. Die Wirte bezahlen einen Beitrag an Leemhuis‘ Firma Gastro Consult, womit sie am Festival teilnehmen und auch den Musikstil – Rock, Blues, Pop oder Hitparade – für ihre Kneipe bestimmen. Weitere Sponsoren und der Getränkeumsatz sichern ein Geschäft zum allseitigen Vorteil. Auch die Entgelte für die (oft) ortsansässigen Bands, die sich mit eigener CD, Foto, Bandbiografie und Angaben zur Musikrichtung bewerben können. Fürs Stadtmarketing ergibt sich ein nicht zu unterschätzender Werbeeffekt. Leer ist der Sitz seiner Firma Gastro Consult, bei der vier Personen fest angestellt und mit 80 bis 100 Festivals dieser Art pro Jahr gut beschäftigt sind.

„Das Haus ‚Taraxacum‘ ist ein großes, 150-jähriges Bürgerhaus, das von jüdischen Tuchhändlern erbaut und bewohnt wurde und nach 1933 in die Hände eines der ranghöheren Nazis der Stadt fiel, dessen Familie dort über die 1.000 Nazijahre hinaus, bis ich das Haus übernahm, ein Eisenwarengeschäft betrieb und schließlich ruinierte“, schrieb einst Michael Wübbelsmann fürs Kursbuch 133. Er gründete 1979 zunächst eine Buchhandlung und erweiterte diese um eine Bühne für Lesungen (oft mit Musikparts) und Konzerte. Seit fast 22 Jahren finden pro Woche ein bis zwei Konzerte statt. Hauptsächlich mit feinsten Blues- und Folkbands wie Ian Melroses „Celtic Fingerstyle Guitar“, aber auch Kammermusik aus Jazz und Klassik: „Die Auswahl erfolgt nach Gusto“, sagt Wübbelsmann. Auch das „Taraxacum“, das mit dem Zollhaus einen monatlichen Veranstaltungskalender herausbringt, bilanziert die Kosten mit Eintrittsgeldern, wobei die 110 Plätze mit Besuchern aus Leer, Emden, Oldenburg, Bremen und den Niederlanden meistens ausverkauft sind.

Der Kulturspeicher

Nonkonform ist auch die Reihe „Jazz im Speicher“, denn sie ist an die Semesterpläne der örtlichen VHS gekoppelt. Ab 1992 mit jährlich sechs bis acht Konzerten sind die Modernisten und neuesten Trends im Jazz vertreten, etwa „Der Rote Bereich“ oder das Trio von Drummer Jim Black. Das Publikum reist aus dem ganzen Nordwesten, mit den Eckpunkten Bremen und Groningen, an. Der Kulturspeicher ist ein kommunales Nutzungshaus in der Altstadt, dessen 180 Plätze von der Stadtbibliothek verwaltet werden. Fürs Programm ist Wilfried Berghaus verantwortlich, der dafür nicht nur in der Presse, sondern auch von den Musikern viel Lob erntet. Finanziert werden die Konzerte über Eintrittsgelder, Verkauf von Getränken und Sponsoren, und mit einer durchschnittlichen Auslastung von 60 Personen ist Berghaus ziemlich zufrieden.

Verein Junger Kaufleute e. V.

Zufrieden ist auch Gunther Lüdeke vom „Verein Junger Kaufleute“ (VJK). Vor 130 Jahren für die Fortbildung der Kaufleute gegründet, widmet sich der VJK nach dem Zweiten Weltkrieg der Vermittlung klassischer Musik in Leer. Mit konstant zehn Konzerten pro Wintersaison, für die Lüdeke als künstlerischer Leiter geeignete Ensembles und Solisten aus den Angeboten der Agenturen auswählt. Dabei waren und sind berühmte Persönlichkeiten wie Sabine Meyer oder Orchester wie die Academy of St. Martin in the Fields, während die gespielten Werke primär aus der Zeit der Klassik und Romantik, selten aus dem Repertoire der Moderne oder gar von zeitgenössischen Komponisten stammen. Das Leeraner Bildungsbürgertum ist da eher konservativ, wünscht Bewährtes statt Ungewohntes. Aber am VJK ist eigentlich nicht die lange Tradition bemerkenswert, sondern die Absicherung des Budgets: Im funktionalen Bau der Berufsschulaula „Blinke“, die in den 60er-Jahren von vornherein für Theater- und Musikveranstaltungen konzipiert war, sind sämtliche 800 Plätze durch Abonnements vergeben. Dadurch ist eine übersichtliche Kalkulation möglich. Durch einen Rückgabemodus können einzelne Karten frei erworben werden, sodass dann auch Nicht-Abonnenten eine Chance haben.

Das Organeum zu Weener

In Leer hat auch einer der wenigen international renommierten Orgelbaumeister seine Werkstatt: Jürgen Ahrend. Er betreut und restauriert vor allem die vielen Orgeln, die Arp Schnitger und seine Schüler im Ems-Dollart-Gebiet gebaut haben, das zu den reichsten Orgellandschaften Europas zählt. Nachdem Prof. Harald Vogel von der Musikhochschule Bremen 1978 die Norddeutsche Orgelakademie gegründet hatte und seit 1981 das zu den Niederlanden grenzüberschreitende „Dollart Festival für Alte Musik“ als Biennale veranstaltet, ist diese Region kulturell nachhaltig aufgewertet worden. Konzerte, Orgelkurse und touristische Exkursionen zu den Kirchen haben seit drei Jahren ihr organisatorisches Zentrum im „Organeum zu Weener“, einer Kleinstadt, die knapp zehn Autominuten westlich von Leer liegt. Das „Organeum“, dessen künstlerischer Leiter Vogel ist, hat in einer restaurierten großbürgerlichen Stadtvilla aus dem 19. Jahrhundert sein Domizil. Es ist Institut für Forschung und Musikpraxis und zugleich ein vielseitig genutztes Kulturhaus für die Region. Hier treffen sich die Touristen zur Abfahrt für die Orgelbesichtigungen und hier üben Studenten aus aller Welt an einer seltenen Kabinettorgel. Eigentümerin des „Organeums“ ist die Stadt Weener, als Träger fungiert die Ostfriesland-Stiftung, eine Einrichtung der Ostfriesischen Landschaft.

Abseits der Metropolen hat sich im Ems-Dollart-Gebiet um die Stadt Leer herum eine sehr aktive und vielgestaltige Kulturnische gebildet, wie sie in anderen ostfriesischen Städten nicht zu finden ist. Wobei die Musikszene ein treibender Faktor geworden ist. Grund genug, das Land zwischen den Deichen einmal zu besuchen, um ostfriesische Varianten des Musikerlebens kennen zu lernen.

www.leer.de
www.zollhaus-kulturzentrum.de
www.rheiderland.de/organeum

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