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Wo die «Königin der Instrumente» tief blicken lässt

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Stuttgart - Eben noch sanftes Pianissimo, jetzt donnerndes Fortissimo - mit ihrem besonderen Klang ziehen Orgeln Millionen in ihren Bann. Gerade in diesen Tagen. Weihnachten ohne die geheimnisvolle «Königin der Instrumente»? Für viele ist das undenkbar. In Stuttgart gehen Forscher den mysteriösen Pfeifentönen auf den Grund. Das Fraunhofer-Institut für Bauphysik (IBP) hat nach eigenen Angaben die weltweit einzige Orgel, die der hohen Wissenschaft dient.

 

Klang soll planbar werden. Oder zumindest planbarer. Und dafür lässt die «Königin der Instrumente» hier am Stuttgarter Uni-Campus tief blicken. Im Gegensatz zu den stets mehrere 10 000 Euro teuren Orgeln in Kirchen oder Konzertsälen ist das Innenleben der Forschungsorgel leicht einsehbar. Einige Gehäuseteile sind aus Acrylglas gefertigt, andere so, dass sie mit wenigen Handgriffen ausgetauscht werden können. Die physikalischen Vorgänge, die dem besonderen Orgelklang zugrunde liegen, können so in allen Einzelheiten erforscht werden.

Die Herrin der Forschungsorgel ist Judit Angster. Die Physikerin hat die Liebe zu dem Instrument in die Wiege gelegt bekommen. Sie stammt aus einer traditionsreichen ungarischen Orgelbauerfamilie mit einst 100 Beschäftigten in Pécs. Eine Angster-Orgel steht in der Basilika von Budapest. Angster leitet die Musikalische Akustik am Fraunhofer-Institut, die auch andere Musikinstrumente erforscht.

«Mein Vater hat gesagt: Die Orgelbauer haben große Probleme», erinnert sich Angster. Probleme, die sich daraus ergeben, dass Orgelbau eine traditionelle Handwerkskunst. «Das Wissen wurde von Generation zu Generation weitergegeben.» Der Sohn machte es so, wie es sein Vater machte, wie es der Großvater machte. Das Wissen sei
«überliefert», sagt Frank Weimbs, Vizechef des Bunds Deutscher Orgelbaumeister (BDO). Wissenschaftlich unterfüttert und weiterentwickelt worden sei da das Wenigste.

«Wenn man früher ein Problem hatte, hat man einfach irgendwas gemacht, irgendwas ausprobiert, um es zu lösen», berichtet Weimbs. Dieses traditionelle System sei teuer und zeitaufwändig, Hilfe von Wissenschaftlern immer gut. Auch Judit Angsters Vater wollte mehr wissen über die physikalischen Geheimnisse des größten, lautesten und vielleicht schwierigsten Instruments - auch um Kosten zu sparen und konkurrenzfähig zu bleiben. Seine Tochter machte sich diesen Wunsch zur Aufgabe.

Mit speziellen Messgeräten können die Forscher zeigen, welche Effekte Veränderungen in Geometrie oder im Material haben. «Es geht uns auch um das Klangdesign.» An Hochgeschwindigkeitskameras und im Labor beobachten die Forscher die Schwingungen von Pfeifenzungen.

Und wem soll das helfen? In erster Linie den Orgelbauern direkt. 80 gebe es noch in der Hochburg Baden-Württemberg. Darunter Konrad Mühleisen, dessen Werkstätte in Leonberg die Forschungsorgel gebaut hat. Bundesweit dürfte es nach BDO-Angaben 200 bis 250 vor allem kleine oder mittelständische Orgelbauer geben, mehr als in jedem anderen europäischen Land. Im BDO sind 100 Firmen, vom typischen Betrieb mit 8 bis 20 Beschäftigten bis zum Zulieferer mit 200.

«Jede Orgel ist ein Unikat», berichtet Angster. Jeder Raum, in dem sie stehen soll, hat andere Voraussetzungen, anderen Widerhall, anderen Nachhall. «Da ist es schwer, im Voraus die Dimensionen zu planen», weiß die Expertin. Eine Software des Instituts soll den Orgelbauern helfen, die optimalen Maße der Pfeifen zu ermitteln. Das spart lange, teure Versuchsreihen und Produktionskosten.

Auch Windsysteme wurden hier entwickelt. Ging früher der Orgel beim Umschalten von einem ganz hohen Ton, der weniger Luft braucht, auf einen Akkord der riesigen Basspfeifen mit ihrem hohen Luftbedarf schon mal ein wenig die Puste aus, bleibt dieser Effekt beim Stuttgarter System weitgehend aus. Wichtig für Orgelplaner – den faszinierten Zuhörern in Kirchen und Konzertsälen dürfte dieser feine
Unterschied gleich sein.

Roland Böhm

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