Recklinghausen - Vor gut 90 Jahren bestellte die Stadt Essen bei Bertolt Brecht und Kurt Weill eine Industrie-Oper. Es sollte «ein künstlerisches Dokument des rheinisch-westfälischen Industrielandes» werden, «ein Dokument menschlicher Leistung unserer Epoche»: das «Ruhrepos» von Bertolt Brecht, Kurt Weill und Carl Koch - wäre es denn jemals realisiert worden.
Die Stadt Essen hatte die Künstler 1927 eingeladen, eine Industrie-Oper zu inszenieren, ein künstlerisches Denkmal, das die Essener Oper auf der Landkarte des deutschen Theaters sichtbar machen würde.
«Ein Bayreuth der Arbeitswelt wollten die machen im Ruhrgebiet», sagt der Bochumer Autor, Dramaturg und Brecht-Kenner Stephan Bock. «Und das ist», er klatscht in die Hände, «durch Antisemiten verhindert worden.» Denn plötzlich bekommen die Verantwortlichen in Essen kalte Füße.
Der Münchner Autor Albert Ostermaier und der isländische Regisseur Thorleifur Örn Arnarsson greifen die Geschichte des visionären Werks und dessen Idee bei den Ruhrfestspielen in Recklinghausen auf. «Die verlorene Oper. Ruhrepos» wird am Mittwoch bei den Ruhrfestspielen uraufgeführt und ist voraussichtlich ab Januar im Schauspiel Hannover zu sehen.
Brecht (Text), Weill (Musik) und Koch (Filmprojektionen) konzipierten eine multimediale Show, in der populären Form der Revue und ästhetisch auf der Höhe internationaler Avantgarden. Darin sollte radikale Gleichberechtigung aller Theater-Gewerke herrschen. Die Künstler bereisten dafür tagelang inkognito die Region - über und unter Tage, per Auto, Flugzeug und Förderkorb.
Der Komponist Weill schrieb seiner Frau von der «Ungerechtigkeit, dass Menschen 700 Meter unter der Erde in völliger Finsternis, in einer dicken schweligen Luft eine unerträglich schwere Arbeit verrichten, nur damit Krupp zu ihren 200 Millionen jährlich noch 5 hinzuverdienen - das muss gesagt werden, und zwar so, dass es keiner mehr vergisst».
«Dieser Stoff hat alles», sagt der Autor und Brecht-Fan Albert Ostermaier. Wenn man bedenke, dass kurz nach dem Reinfall an der Ruhr Brechts und Weills «Dreigroschenoper» in Berlin uraufgeführt wird, frage man sich, wie viel «Ruhrepos» in der «Dreigroschenoper» stecke.
Der Autor - auf der Bühne gespielt von Jakob Benkhofer - ringt mit der übergroß scheinenden Aufgabe, die «verlorene Oper» zu schreiben. Ähnlich wie die Originalidee werde es «eine Zeitreise durch das Ruhrgebiet, von der Vergangenheit bis in die Zukunft», sagt der echte Autor, «eine Oper über das Verlorene, aber noch mehr als alles andere die Suche, das Existenzielle des Suchens und der Suchbewegung».
Das passt. Im Schließungsjahr der letzten Steinkohlenzeche ist schließlich auch das Ruhrgebiet auf der Suche - nach alter und neuer Identität. Das aktuelle Projekt war Ostermaiers Idee - und längst überfällig, sagt der Münchner: «Es ist ein Mysterium, dass einfach nie jemand das angefasst hat.»