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Die Orgel von Hamburgs Hauptkirche St. Nikolai als pfeifenloses Gerippe aus Holz.

Eine Orgel ganz ohne Pfeifen ist ein sonderbares Gebilde, wie hier in Hamburgs Hauptkirche St. Nikolai. Am bundesweiten Orgeltag sind aber alle Pfeifen da und klingen! © Ralf-Thomas Lindner

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Ein Wochenende für die Orgel: Bundesweiter Orgeltag 2023

Vorspann / Teaser

Es ist ein erhebendes Gefühl, wenn der majestätische Klang einer Orgel durch einen großen Kirchenraum schallt. Aber sie kann auch ganz anders – das soll am 13. bundesweiten Orgeltag am 9. und 10. September bewiesen werden. Das Programm ist vielfältig und voller Überraschungen. Manches ist althergebracht, manches ist aber im Kirchenraum, der überwiegend die Heimat der etwa 50.000 Orgeln in Deutschland ist, über Jahrhunderte undenkbar gewesen und drängt nun mit Macht an die Öffentlichkeit – wird laut und sichtbar.

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Eine Harfe oder ein Klavier sind irgendwie mobil – man kann sie von dem einen Ort zu einem anderen transportieren. Die (Pfeifen-)Orgel ist wohl das einzige wirklich ortsgebundene Musikinstrument, das seinen Platz nicht wieder verlässt. Einmal eingebaut, verharrt sie, wo sie ist. Dieses mag übrigens auch einer der Gründe dafür sein, warum man ihr königliches Geblüt nachsagt: ihre Standhaftigkeit und ihre Beharrlichkeit in allen Situationen. Im Volksmund wird die Orgel gern als die „Königin der Instrumente“ bezeichnet – dabei wird auf ihren unermesslichen Klangfarbenreichtum angespielt, wie man sagt bunter, als es ein Sinfonieorchester je sein könnte. Wolfgang Amadeus Mozart, auf den dieser „königliche“ Gedanke wohl zurückgeht, sagte allerdings etwas anderes: „Die orgl ist doch in meinen augen und ohren der könig aller jnstrumenten.“

König, Königin oder König*in?

Etwa 50.000 Orgel gibt es in Deutschland, die allermeisten davon stehen in Kirchen. An diesem christlichen Ur-Ort des Gedenkens an die göttliche Schöpfung ist es sicher in Ordnung, wenn das Geschlecht der Orgel (Königin oder König) nicht letztlich geklärt wird, heißt es doch in der Bibel (1. Mose 1, 27): „Und Gott schuf den Menschen ihm zum Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie einen Mann und ein Weib.“ Man könnte also vereinfacht sagen, Gott ist „allgeschlechtig“ oder „Geschlecht ist eigentlich unwichtig“. Vor einigen Wochen spielte Tjark Pinne in der Hauptkirche St. Nikolai auf der frisch restaurierten Orgel ein von der queeren Community gut besuchtes Konzert anlässlich des Christopher Street Days in Hamburg. Die Frage, die er sich dabei stellte, war nicht die nach der Orgel und ihren Möglichkeiten, sondern: „Kann man an der Musik hören, dass Komponist*innen queer sind?“

Am Wochenende vom 9. und 10. September findet in Deutschland mit einem vielfältigen Programm der mittlerweile 13. bundesweite Orgeltag statt. Anders gesagt: die Orgeln gewähren dem interessierten Publikum eine Audienz. Von der Wiege (besser: von der Taufe) bis zur Bahre begleitet die Musik der Orgel durch alle wichtigen Stationen das christliche Leben der Menschen: Taufe, Kommunion/Konfirmation, Geburtstage, Ehe, Begräbnis. Dabei ist sie (bislang) ein eher seriöses und ernstes Instrument. In der jüngeren Generation mag der eine oder andere (Ey Digga!) sie als goofy (komisch) oder als einen NPC (Non-Playable Charakter = unnütz, unwichtig) ansehen. Vielleicht gelingt aber gerade diesem bundesweiten Orgeltag ein erster Schritt in eine andere Richtung.

Das Programm (https://www.orgeltag.de) ist ausgesprochen vielfältig und deckt die ganze Palette dessen ab, was an einer Orgel und ihrer Klangwelt interessant sein könnte. Die Idee, die hinter dem Orgeltag steckt, ist weitgehend dieselbe, die auch die Aktion „Instrument des Jahres“ (die Orgel war es 2021, in diesem Jahr ist es die Mandoline) trägt: „mit einem Aktionsprogramm ein breites Interesse für ein Instrument und seine Bedeutung wecken. Dabei stehen insbesondere Instrumente im Mittelpunkt, die mehr Beachtung verdienen oder bei denen es sich schwieriger gestaltet, musikalischen Nachwuchs zu finden“. Nachwuchs auf den Orgelbänken findet man immer seltener – welcher Jugendliche mag sich schon jeden Sonntag dazu verpflichten, im Gottesdienst die Orgel zu schlagen? Dazu kommt dann noch, dass die gottesdienstliche Musik von vielen Jugendlichen nicht als sehr ansprechend und zeitgemäß empfunden wird.

Treffen sich zwei Kulturschaffende: Sagt keiner was zum andern.

Um es vorweg zu nehmen: Kulturpolitisch ist mit dem Orgeltag ein ganz großer Wurf gelungen. Kennt man kirchliche Strukturen, so weiß man, wie schwer es ist, zwei Organisten in zwei unterschiedlichen Kirchen einer [sic!] kleineren Stadt dazu zu bewegen, ihre Konzerte nicht parallel zu veranstalten. Kommunikation unter Kulturschaffenden ist noch immer und immer wieder ein schwieriges Thema...

Exkurs: Es geht ein Gerücht unter den Tieren des Waldes um, dass der Bär eine Todesliste angelegt habe. Auf ihr solle verzeichnet stehen, hört man unter den Tieren, wen er alles auffressen wolle. Tatsächlich verschwinden Tag für Tag Tiere aus dem Wald und man ist sich einig, dass der Bär dafür verantwortlich ist. Da fasst sich eines Tages der kleine Hase ein Herz und geht tief in den Wald hinein zum Bären. Er fragt ihn: „Du, Bär, ist es wahr, dass Du eine Todesliste hast?“ – „Ja“, brummelt der Bär. – „Stehe ich auch auf dieser Liste?“, möchte der zitternde Hase nun wissen. – „Selbstverständlich“, erwidert der Bär. – „Könntest Du mich vielleicht streichen“, nimmt der kleine Hase seinen ganzen Mut zusammen. – „Klar, kein Problem!“; versichert ihm der Bär. Fazit: Kommunikation ist alles! Ergänzen könnte man vielleicht noch, dass man zu den einfachen Kommunikationsstrukturen kein Internet und keine komplexen Techniken benötigt – nur den eigenen Mund.

Spaß beiseite: Es mögen auch Ferientermine und ähnliches das Ihre dazu getan haben, dass Konzerte so stattfinden, wie sie stattfinden, aber das einige namhafte Orgelfestivals es geschafft haben, ihre letzten Konzerttermine auf diesen einen Tag zu legen, um die bundesweite Schlagkraft, den Lebenswillen und die Lebensfähigkeit der Orgelszene (auch jenseits von gottesdienstlichem Organistenzwirn) zu verdeutlichen – das ist grandios! Auch das gleichzeitige Stattfinden von Orgeltag und „Tag des offenen Denkmals“ ist eine wunderbare Kombination!

Viele der Einzel-Veranstaltungen sind auf der Homepage des Orgeltages verzeichnet und gut zu finden. Es lohnt aber in jedem Fall auch in der örtlichen Presse einmal nachzuschauen, was vielleicht darüber hinaus vor Ort angeboten wird. Die Breite der Veranstaltungen fängt am Anfang eines Orgellebens an – so bieten einige Orgelbauer (z. B. Orgelbau Fleiter in Münster oder Orgelwerkstatt Scheffler in Frankfurt/Oder) einen Tag der offenen Tür an und in der Autobahnkirche St. Kilian in Schleusingen an der BAB 73 (Achtung, die Autobahnkirche ist an der Autobahn selbst noch nicht ausgeschildert – Navi verwenden!) wird eine Orgel neu eingeweiht. Dann steht das „Alltägliche“ der Orgel auf dem Programm: Konzerte und Gottesdienste – zumeist mit der Orgelmusik, wie viele sie kennen (und das ist gut so!): Johann Sebastian Bach, Max Reger, die Alten Meister usw. Orgelführungen, Orgelmeditationen, Wandelkonzerte mit der U-Bahn, zu Fuß und dem Fahrrad – das Programm bietet für jeden etwas.

Der freie Geist

Ganz langsam schleicht sich aber eine neue Zeit in die Orgelmusik in. Dabei ändert sich an der Orgel, die seit Jahrhunderten denselben Bauprinzipien und Ideen folgt, nichts. Der Raum um die Orgel und der Geist, der dort wohnt, beginnt sich langsam zu wandeln. War die Kirche bis vor wenigen Jahren ein (stiller) Andachtsraum, im katholischen Bereich gar ein heiliger Raum, wird er nun (zumindest aus Sicht der Gemeinden) zeitgemäßer und lauter. Die Kirchengemeinden und ihre Verantwortlichen merken allmählich, dass sie aktiv und gemeindenah etwas tun müssen, um nicht in Kürze ganz von der Bildfläche zu verschwinden. So werden das Saxophon und das Didgeridoo (zwei in der Kirche bislang selten zu findende Instrumente) zu hören sein (Köln bzw. Radevormwald). Popmusik hält Einzug (Düsseldorf) in ehrwürdige Gemäuer, Swing (Rüppurr), Jazz (Karlsruhe) und sogar Tanz (Brandenburg). Zum Kuschelkissenkonzert (Rockenberg) dürfen Kinder und Erwachsene Stofftiere, Kissen und Decken mitbringen – und einfach nur genießen. Für die die Erwachsenen gibt es Kabarett (Düsseldorf) und Tea-Time (Essen) mit Earl Grey mit Scones, Clotted Cream und Erdbeermarmelade. Die Kinder können den frechen Orgelbären Petzi (Nagold) oder die Orgelmaus (Schladen) treffen. Der einstmals von der lauten Welt abgetrennte Raum Kirche scheint nun zum neuen Wohnzimmer der Gemeinden zu werden.

Was gibt es noch? Musik für zwei Orgeln (Solingen) und ein Konzert mit einer Drehorgel (Görne), quasi der weltlichen kleinen Schwester der großen Pfeifenorgel. Vielleicht kommt man auch nach Halberstadt – dort spielt eine Orgel das Stück ORGAN2/ASLSP von John Cage. ASLSP bedeutet „as slow as possible“ (so langsam wie möglich). Die Aufführung, die leider nicht im Programm des Orgeltages verzeichnet ist, findet gerade statt – schon seit dem 5. September 2001 und sie dauert noch bis ins Jahr 2640 – viel langsamer geht es wohl kaum. Derzeit kann man dort sechs Töne hören – etwas Ausgefallenes für echte Orgelfans oder solche, die es werden wollen. Für uns alle ein Lehrstück über das Verfließen der Zeit und die (kleine) Ewigkeit.

Es scheint sich etwas zu tun in der großen Orgelwelt (und der sie umgebenden Kirchenwelt). Darauf muss natürlich auch die Orgel selbst reagieren. In einer Erfurter Regionalzeitung konnte man vor einigen Tagen lesen, dass die Orgel im Erfurter Dom einen neuen Spieltisch bekommen habe und der „Organist nun bei den Zuhörern sitze“. Zentrale Spieltische von denen mehrere Orgeln im Raum aus angespielt werden können, gibt es mittlerweile in einigen Kirchen. Das Neue ist tatsächlich, dass die Orgel ihren Thron, die Empore, zum Teil verlässt und nahe zu den Menschen kommt: der Spieltisch steht also fortan mitten in der Gemeinde und man kann dem Organisten bei seiner Tätigkeit zusehen. So ist es auch bei der Orgel nicht anders als bei anderen Königshäusern – sie werden volksnäher, menschenverbundener und nahbarer. Denn: Die Orgel kann nun auch ein normal Sterblicher berühren und in manchen Kirchen dürfen die Kinder auch mal an der Orgel spielen und ihre Künste ausprobieren – ganz gewiss!

Weitere Informationen zum Orgeltag:

Informationen für diejenigen, die am Wochenende keine Zeit für den Orgeltag haben:

  • Bei youtube findet man unter dem Titel „Barockorgeln in der Lüneburger Heide und im Hannoverschen Wendland. 10 Orgeln. 8 Minuten. 1 Buxtehude.“ ein wunderbares Video, das einem im eigenen Wohnzimmer einen guten und hörenswerten Eindruck in die Orgelwelt gibt. Als Suchbegriff reicht bei youtube das Wort „Barockorgeln“.

  • Für die erste Begegnung von Kindern mit der Orgel hat Ksenia Böning ein Bilderbuch, „Das große Buch der Orgel“ (ISBN 978-3-00-034534-0), gestaltet. Es wurde herausgegeben vom Bund Deutscher Orgelbaumeister und ist auch in den Sprachen Englisch, Französisch, Chinesisch, Japanisch, Koreanisch, Norwegisch und Schwedisch erhältlich.

  • Für die Erwachsenen sei das Buch „Der Nachtstimmer“ (ISBN 978-3-492-31885-3) empfohlen. Der Autor Maarten ‘t Hart schildert in seinem Roman kenntnisreich die Arbeit eines reisenden Orgelstimmers, der in einer Hafenstadt in Südholland, die von Misanthropen und Hinterwäldlern bewohnt wird, manches auch jenseits der Orgel erlebt, was an Skurrilität fast nicht zu überbieten ist. Und dann ist da noch eine Furie von Frau und eine portugiesische Bibel. Sehr lesenswert!

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