Kassel ist die Stadt der documenta, aber sie hat noch mehr zu bieten. Dazu gehört auch ein breit gefächertes Angebot an Neuer Musik, und dabei kommt der Kasseler Martinskirche eine zentrale Bedeutung zu. Nach Klaus Martin Ziegler und Hans Darmstadt setzt Kantor Eckhard Manz weitere markante Akzente. Beispielsweise leitete er von einigen Jahren eine denkwürdige Aufführung von Jörg Widmanns Cellokonzert „Dunkle Saiten“. Erst recht von Klängen erfüllt war die Martinskirche in diesem Sommer, denn vom 17. Juni bis zum 5. September präsentierte die Evangelische Kirche die Veranstaltungsreihe „Neue Musik in der Kirche – Weg mit Abschied“ als Begleitprogramm zur dOCUMENTA (13).
Hauptkomponistin des Festivals war Charlotte Seither, die unter anderem mit einem Schulprojekt hervortrat. „Ich bin der Meinung, dass Musik für Kinder oder Jugendliche in ihren Inhalten absolut kompromisslos sein muss. Nur so können wir ihnen wirklich gerecht werden.“ So formuliert Seither den Anspruch, den ihre „Fünf Stücke um den Fluss zu queren“ eindringlich erfüllten. Emotional und aufregend, wie eben die Jugend ist – so war die Musik, die das Orchester des Kasseler Wilhelmsgymnasiums beim Festivalausklang darbot.
Die Vorbereitungen hatten schon im vergangenen Jahr begonnen, als Seither einen Abiturkurs des Wilhelmsgymnasiums im Fach Religion kennengelernt hatte. „Diese Jugendlichen haben mich sehr bewegt“, sagt die Komponistin, „allesamt standen sie vor der Situation, Flüsse in ihrer Biografie queren zu müssen.“ Wie Religionslehrerin Christine Hallaschka anmerkt, betrachteten die Schülerinnen und Schüler Themen wie Familie, Freunde und das eigene Ich vor allem unter dem Blickwinkel von Abschied und Neubeginn. Es ging um Fragen wie: Was kommt nach dem Abitur? Wen lasse ich privat zurück, wen verliere ich, eventuell für immer?
Nach der Kasseler Begegnung komponierte Seither in Berlin ihre Musik, die dann ab März im Wilhelmsgymnasium intensiv geprobt wurde, teilweise in Anwesenheit der eloquent erläuternden Komponistin. Die Schwierigkeiten der Partitur wurden schließlich bestens bewältigt. Ein riesiges Kompliment gebührt dem Schulorchester und seinem Leiter Christopher Hilmes, die mit diesem Projekt Neuland betraten.
Einen „mikrotonalen Wespentriller“ und ein „Düsenjäger-Glissando“ (so Seithers Formulierungen) sieht das Werk ebenso vor wie Geräuschfelder von Lotosflöten, Ratschen und Flexatonen, aber auch die vertraute Expressivität eines klagenden Halbtonschrittes. Eine pointierte, effektvolle Musik, zudem bemerkenswert besetzt, da bestimmte Gruppen, etwa die Klarinetten, viel stärker vertreten sind, als in einem Sinfonieorchester.
Auch sonst hatte das Festival mit seinen zehn Konzerten und sieben Gottesdiensten viel zu bieten. Beim Finale beeindruckte neben den Kasseler Schülern auch die jugendliche Kompetenz des Studios musikFabrik aus Nordrhein-Westfalen. Zuvor brachten die Konzertwochen unter anderem Auftritte des Pianisten Markus Bellheim, der Geigerin Hannah Weirich und des von Eckhard Manz geleiteten Vocalensembles Kassel. Das Spohr Kammerorchester Kassel, ebenfalls unter Manz‘ Leitung, bot ein besonderes Seither-Erlebnis: „Schatten und Klarsein“, eine Auseinandersetzung mit Heinrich von Kleist und Caspar David Friedrich, entwickelte eine Sogkraft, die man schwer vergisst.