Gohrisch - Die Internationalen Schostakowitsch Tage (23.-25.6.) in Gohrisch bieten in diesem Jahr vier Uraufführungen. Eine davon stammt vom Namensgeber des Festivals selbst: Gut 87 Jahre nach Uraufführung der Oper «Die Nase» sind drei damals nicht verwendete Zwischenspiele erstmals zu hören.
Die Anfahrt zum Konzert ist eine Sinfonie für die Augen. Wer die Internationalen Schostakowitsch Tage in Gohrisch besucht, fährt durch eine Traumlandschaft mit Tafelbergen, Wäldern, Schluchten und einem Fluss, der dieser Gegend ihren Namen gab - Elbsandsteingebirge. Zweimal hat Dmitri Schostakowitsch (1906-1975) diese Idylle mit eigenen Augen gesehen. 1960 weilte er erstmals im Gästehaus des DDR-Ministerrates, nicht nur zur Erholung. Denn mit seinem 8. Streichquartett komponierte er hier eines der wichtigsten Kammermusikwerke des 20. Jahrhunderts, das zudem eine sehr persönliche Note hat. Er verstand es als eine Art Requiem für sich selbst; zugleich ist es eine bedrückende Abrechnung mit Stalin.
Seit 2010 richten Musiker der Sächsischen Staatskapelle unter Leitung ihres Dramaturgen Tobias Niederschlag alljährlich in Gohrisch ein Festival zu Ehren des Meisters aus. Auch namhafte Musiker wie der Geiger Gidon Kremer oder der Pianist Igor Levit waren schon zu Gast. Das Fest hat sich schnell in die Herzen der Schostakowitsch-Fans gespielt und hat mittlerweile auch Anhänger im Ausland. Musiziert wird in einer Konzertscheune. Selbst in Wald und Flur erklang Musik bereits. Gohrisch ist ein Beispiel dafür, wie ein kleines Festival Großes leisten kann. Die Musiker verzichten auf ihre Gage, die Bevölkerung ist in die Organisation eingebunden und es herrscht familiäre Atmosphäre.
In diesem Jahr wird dem Publikum eine musikalische Rarität serviert. Gut 87 Jahre nach der Uraufführung der Schostakowitsch-Oper «Die Nase» in Leningrad, dem heutigen St. Petersburg, sind erstmals drei Zwischenspiele aus diesem Musiktheater zu hören. Sie wurden erst vor etwa einem Jahr entdeckt. Warum sie seinerzeit in der Versenkung verschwanden, ist unklar. Nach Ansicht des Dirigenten Thomas Sanderling, der am 25. Juni die bislang ungespielten Stücke gemeinsam mit der Staatskapelle Dresden aus der Taufe heben will, hatte das damalige Inszenierungsteam die entscheidende Aktie daran: «Nichts sollte Teil einer Operninszenierung sein, was nicht auf der Bühne auch dargestellt wurde.»
Der Komponist Krzysztof Meyer, der wie Sanderling Schostakowitsch persönlich kannte, sieht das anders. Er geht davon aus, dass sich der Künstler selbst gegen eine Verwendung dieser Teile entschied: «Wäre er überzeugt davon gewesen, dass sie sehr gut sind, hätte er sie nicht weggeworfen.» Der Verzicht sei eher ein Beweis für den Arbeitsprozess. Manchmal seien sogar die Skizzen für eine Komposition interessant. Meyer - Präsident der Schostakowitsch Gesellschaft mit Sitz in Darmstadt - kann sich weitere Entdeckungen bisher unveröffentlichter Tondokumente vorstellen, etwa Fragmente oder Miniaturen: «Ich bin aber zu 100 Prozent davon überzeugt, dass wir keine Sinfonie von ihm mehr finden.»
Schostakowitsch und die Sinfonien: Bei vielen seiner 15 Sinfonien wird der Zuhörer mit Klangfülle geradezu betört. Doch selbst in den großen Werken gibt es immer wieder kammermusikalische Phasen, die die Musik transparent und fast zart erscheinen lassen. Für Sanderling ist Schostakowitsch ein Genie. Sein großes Thema sei das unterdrückte Individuum gewesen: «Niemand hat das die Welt so fühlen lassen wie er. Er war der ideale Künstler für dieses Thema in dieser Zeit.» Das Publikum habe ein sehr genaues Gespür für außergewöhnliche künstlerische Leistungen: «Ein solche Kunst überträgt sich. Deshalb wird Schostakowitsch heute in aller Welt als einer der letzten großen Sinfoniker verehrt.»
Spritzig, raffiniert und sarkastisch - mitunter bitterböse: Mit solchen Attributen beschreibt Niederschlag die Musik des jungen Schostakowitsch. «Er hat früh einen ganz eigenen Tonfall gefunden. Man hört aber auch in seinen späteren Werken trotz aller ästhetischen Vielfalt immer, dass es Schostakowitsch ist.»
Bei ihm seien die ästhetischen Brüche in der Regel mit biografischen einhergegangen. Als Stalin am 26. Januar 1936 eine Aufführung der Schostakowitsch-Oper «Lady Macbeth von Mzensk» bereits in der Pause verließ, konnte man Schlimmes ahnen. Zwei Tage später erschien im Parteiorgan «Prawda» der berühmt-berüchtigte Artikel «Chaos statt Musik». Im Februar wurde Schostakowitsch vom Komponistenverband als Formalist verurteilt. In der damaligen Sowjetunion konnte so etwas tödliche Folgen haben.
Für Niederschlag ist das ein Grund, warum Schostakowitsch in seinen Werken von da an oft doppelbödig blieb. Er habe so in seiner Musik «geheime Botschaften» verstecken können: «Das war für ihn eine Möglichkeit, sich treu zu bleiben und nicht linientreu zu komponieren.» Es sei klar, dass man sich in der Stalin-Ära nicht offen auflehnen konnte: «Seine Musik bringt das konkret zum Ausdruck. Sie war für ihn trotzdem ein Ventil.»
Auch der Ruhm mag Schostakowitsch vor dauerhaften Anfeindungen geschützt haben. Er nutzte ihn auch, um Kollegen zu helfen, die keine solche Lobby hatten. «Dafür wird er bis heute von russischen Musikern wie ein Heiliger verehrt», sagt Niederschlag. Dass Schostakowitsch gelegentlich im Sinne der Mächtigen komponierte, schmälere sein Werk nicht.