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Kühl war die Mittsommernacht in Scheeßel. Vereint in Musik rückte die Menschenmenge noch enger zusammen - nicht nur deswegen: Unnahbar wirkend, in schwarze Seide gehüllt, setzte die isländische Sängerin Björk Momente frei, die nicht mehr von dieser Welt schienen.
Hinaus in die heraufziehende und nur sehr kurz währende Dunkelheit drang die Stimme der isländischen Sängerin, umgeben von feinnervigen Arrangements. Das Elektronik-Duo Matmos besorgte einen noise-betonten elektronischen Anteil, und die Avantgarde-Harfenistin Zeena Parkins setzte nicht nur in "Pagan Poetry" ihre luziden Glanzlichter, während ein 8köpfiges Streicherensembles die ganze Klangwelt aufleben ließ, mit der Björk auf ihrem letzten "Vespertine"-Album einmal mehr sämtliche Erwartungen durchkreuzt hatte. Wo man auch ansetzt, Worte kamen schnell ans Ende bei dieser Welt aus Zartheit, Obsession und Stärke, die in jedem ihrer unterschiedlichen, so facettenreich-ungreifbaren Kompositionen wuchert - ähnlich den ganzen bizarren Lebensformen und zuckenden Körpern, die auf der Videoleinwand hoch über der Festival-Bühne auch visuelle Extreme ansteuerte. Großartiger, einsamer Höhepunkt auf einem Festival, dass wirklich keinen Mangel an Höhepunkten beklagen konnte!
Von den über 50 000 FestivalbesucherInnen, die hier drei Tage und ebenso viele Nächte lebten, feierten und campierten, konnte jeder die eigenen musikalischen Favoriten küren, entsprechend vielfältige Bands und Stile wurden durchweg enthusiastisch gefeiert.
The Asian Dub Foundation brachte mit ihrem kochenden Gemisch aus Dub, Ragga, Hip Hop und allerhand ethnischem Rhythmuszauber die Stimmung vor der Zeltbühne zum Überkochen. Hier hatte auch Moloko-Sängerin Roisin Murphy ihr ideales, schwitzendes Biotop, um mit einer durchgestylten Melange aus Pop, House und Disco-Glamour sogar dem charismatischen britischen Techno-Duo Underworld phasenweise die Show zu stehlen. Wenn Konzept, Dramaturgie, Abfolge der Bands auch meist stimmten in Scheeßel, bleibt zu fragen, warum gerade diese zwei wohl am stärksten auf den Dancefloor orientierten Konzerte unbedingt zeitgleich stattfinden mussten?
Es gab so manche Entdeckung: Die New Yorker Gitarrenband "Interpol" brachte es im Brennpunkt zwischen Psychedelia und Alternative Rock zu intensiver Eindringlichkeit- nicht ohne dabei Spurenelemente aus dem Wave der 80er (the Smith, Joy Division) zu integrieren. Console aus dem süddeutschen Weilheim zeigten hingegen, wieviel Charme aufkommen kann, wenn man nur krachigen Elektroniksound und spröde Melodien lange genug gegen den Strich bürstet.
Und es rockte gewaltig in Scheeßel - das ohnehin boomende Revival von Rockbands hatte mit diesem Festival seinen wattstarken Durchlauferhitzer: Etwa, als die drei finnischen Apocalyptica-Cellisten auf ihre Saiten droschen, als sollte ihr wuchtiges und gleichsam melödiöses Metal(lica)-Gewitter die ganze norddeutsche Tiefebene ins Beben versetzen.
Die leibhaftige, gegenwärtige Inkarnation von prallem Rock and Roll im Hier und Jetzt, durchsetzt mit Punk von einst und Metal-Attituden, vollzogen "Turbonegro" mit großem Abstand am plakativsten - sehr überzeugend verglichen etwa mit der unausgegoren wirkenden Mischung von Punk, Reggae und sonstigem bei den kalifornischen NOFX, die wohl, das zeigten die Publikumsreaktionen, nur bei ausreichendem Alkoholpegel einen Sinn zu bekommen scheint.
"Massive Attack", die mit ihrer Multimediashow nach Björk recht stimmig an deren kühle und dunkle Ästhetik anknüpften, hatten mit einem nicht ganz astreinen Sound und einer stimmlich phasenweise indisponierten Sängerin zu kämpfen.
Aber dann gab eine Band nach fast einem halben Hundert Konzerten noch einmal wirklich alles: Mit fesselnder Präsenz führte Radiohead vor, wie Rock zum experimentellen Kunstobjekt wurde, um dann um so machtvoller mitten in jedes
denkbare emotionale Zentrum vorzustoßen. In einer grandiosen Bühnenshow, mit einem Soundkosmos aus verquerem Gitarren-Noise und Elektronik, mit zerbrechlichen Songs und gewaltigen Ausbrüchen, tauchten sie das Publikum in einen Gefühls-Ozean ohne Beispiel!