Wien - In denkbar ungewöhnlichen Zeiten erlebt Beethovens einzige Oper in Wien eine ungewöhnliche Neuaufführung. Das ist nicht die einzige Parallele zwischen «Fidelio» unter Christoph Waltz' Regie und der Welt im Faustgriff des Coronavirus.
Zu Beginn von Christoph Waltz' «Fidelio»-Inszenierung wird der Gefangene Florestan eine große Wendeltreppe hinabgeworfen - von Kräften, über die er keine Kontrolle hat. Der unkontrollierte Fall - eine Metapher, so unbeabsichtigt wie passend für die Weltlage in diesen Corona-Zeiten, die diese ebenso ungewöhnliche Premiere am Theater an der Wien am Freitagabend lieferte. Waltz' Inszenierung ist ein Opfer dieser Zeit, musste sie doch ohne den Applaus eines anwesenden Publikums auskommen. Stattdessen erreichte ihre Aufzeichnung per Netz und TV eine wohl viel größere Zuschauerzahl.
Die Aufführung hatte ein Highlight werden sollen in diesem Jahr, in dem die Klassikbranche den 250. Geburtstag von Ludwig van Beethoven feiert: Der in Wien geborene Oscar-Preisträger Waltz würde Beethovens einzige Oper an der Theater an der Wien inszenieren, wo das Stück 1805 seine Uraufführung hatte, in der Stadt, in der Beethoven lebte und maßgeblich die «Wiener Klassik» prägte. Für die Bühne ausgewählt wurde die am 16. März 1806 erstmals präsentierte Zweitfassung.
«Beethovens Geist ist hier. Das macht diese Produktion so besonders», sagte der österreichische Dirigent der Oper, Manfred Honeck, der Deutschen Presse-Agentur noch kurz vor der für vergangenen Montag geplanten Premiere. Doch dann wurde diese aufgrund der Coronavirus-Krise abgesagt, das Theater an der Wien musste wie die anderen Kulturstätten in Österreich vorläufig schließen. Doch so schaffte es die Arbeit des 63-jährigen Waltz auf die Bildschirme.
Die letzten, aufgezeichneten «Fidelio»-Proben konnten Online-Plattformen am Freitag ausstrahlen. Auch im Sender ORF2 war die Aufführung am späten Freitagabend zu sehen.
Hollywood-Star Waltz, für den «Fidelio» die dritte Opern-Regie seiner Karriere war, lieferte mit dem Theater eine überzeugende Inszenierung. Er setzte auf ein reduziertes und realistisches Agieren der Sängerinnen und Sänger. So wurde «Fidelio» nicht nur eine Geschichte über Liebe und Freiheit, sondern auch zu einem Stück über Macht und Gewalt zwischen Herrschenden, Untergebenen und denen, die die Befehle ausführen. Waltz ließ die Sänger in vage an kommunistische Regimes erinnernden Uniformen ihre Geschichten vortragen - ohne große Opern-Gesten, aber mit nuanciertem Spiel.
US-Sopranistin Nicole Chevalier nahm die Rolle der Leonore ein, die Fidelio beauftragt, ihren Ehemann zu befreien. Als Don Pizarro, der Gouverneur, der Leonores Mann in Ketten hält, dünstete der ungarische Bassbariton Gabor Bretz schiere Macht aus. Den Höhepunkt der Aufführung bildete Melissa Petit als Gefängnisleiter-Tochter Marzelline, deren federleichter Sopran und fein akzentuiertes Spiel durch und durch strahlte. Florestan wurde vom Tenor Eric Cutler wunderbar warm gesungen - dessen gutes Aussehen widersetzte sich etwas der Realität eines jahrelangen Kerker-Aufenthalts.
In seiner Art, die Sänger und die hochkonzentrierten Wiener Symphoniker zu führen und die komplexen musikalischen Strukturen der Oper mit ihren ungewöhnlichen Rhythmen und dissonanten Passagen herauszuschälen, machte Dirigent Manfred Honeck klar, welch Revolutionär Beethoven seinerzeit war.
Das Treppen-Bühnenbild des deutsch-amerikanischen Architekturbüros Barkow Leibinger sorgte für einen flexiblen und doch neutralen Hintergrund, der verdeutlichte, dass politisches Unrecht überall auf der Welt geschieht. Das Spannungsfeld Gefangenschaft und Freiheit gab dem Stück angesichts der weitreichenden Maßnahmen zur Eindämmung der Coronavirus-Pandemie auch noch die aktuelle Tragweite.
Das Interesse an der Aufführung war so groß, dass die Übertragung wegen zu hoher Zugriffszahlen zeitweise zusammenbrach, wie eine Sprecherin der Klassik-Plattform Myfidelio.at bestätigte. Auf große Resonanz hatte Intendant Roland Geyer gehofft. Dass man die Neuproduktion nicht vor Ort erlebbar machen könne, sei einerseits sehr traurig, hatte er vorab mitgeteilt. «Andererseits bin ich froh, dass wir mit der Ausstrahlung ein breites Publikum erreichen können.» Alle Mitwirkenden hätten «trotz des großen Zeitdrucks auf höchstem künstlerischen Niveau an dieser Aufzeichnung gearbeitet.»
Für die finalen Proben war das Theater nach Worten von Dirigent Honeck kurzfristig zu einem Filmstudio umfunktioniert worden. Für sein Ensemble sei das kein Problem gewesen, «da wir mit demselben Bewusstsein und vollem Einsatz diese wunderbare Musik von Beethoven auf die Bühne gebracht haben».