Berlin - Den spektakulärsten Auftritt in einer Kirche hat in diesem Jahr die russische Punkband Pussy Riot hingelegt. Weniger Aufmerksamkeit bekommt das, was sich schon seit einiger Zeit in deutschen Kirchen abspielt: Die Häuser öffnen ihre Türen für Rock und Pop, zwischen Orgel und Altar treten Bands und Musiker auf, die man sonst in Clubs erlebt.
Eine Auswahl: Am Samstag (3. November) spielen Lambchop in der Berliner Apostel-Paulus-Kirche, am 10. November macht Chuck Ragans "Revival Tour" Station in der Ringkirche in Wiesbaden, Death-Cab-for-Cutie-Sänger Ben Gibbard spielt am 29. in der St. Johanniskirche in Hamburg und am 30. in der Passionskirche in Berlin.
Viele solcher Shows melden blitzschnell "ausverkauft". Nicht nur beim Publikum sorgen die ungewöhnlichen Konzerte für Gänsehaut, auch die Künstler schwärmen. Der US-Sänger Dave Hause, Frontmann der Punkband The Loved Ones und auch solo unterwegs, stand 2011 bei der "Revival Tour" in der Wiesbadener Ringkirche auf der Bühne und sagt: "Das war eines der unvergesslichsten Konzerte meiner Karriere. Es war eine magische Nacht."
Der Initiator der "Revival Tour", bei der Folkmusiker verschiedener Bands zusammen musizieren, Hot-Water-Music-Frontmann Chuck Ragan, sagt: "An einem Ort zu spielen, der mit Blut, Schweiß und Tränen gebaut wurde, ist eine Ehre, die ich zu schätzen weiß. Ich glaube, es gibt nicht viele solcher Momente im Leben."
Die Band Lambchop spielte bereits zahlreiche Konzerte in Kirchen. "Sie sind ein Ort, der einen inspiriert", sagt Sänger Kurt Wagner. Der Musiker und seine Bandmates sind bekannt für ihren ruhigen und minimalistischen Sound, der perfekt zu Akustik und Ambiente von Kirchen zu passen scheint. "Ich bin nicht sicher, ob wir die Kirche ausgewählt haben oder sie uns", sagt Wagner. "Unsere Gesellschaft betrachtet Kirchen als Orte des Nachdenkens und der Reflexion, das ist eine Stimmung, die gut zu unserer Musik passt."
Wagner betont jedoch: "Ich achte in Kirchen aus Respekt auf die Menschen, die sich sonst dort aufhalten, auf meine Wortwahl." Leider enthielten viele seiner Songs aber auch derbe Ausdrücke - "da gibt es also ein bisschen Spannung". Lambchop haben eine respektable Spielstättenerfahrung, zu der Museen, botanische Gärten, Bahnhöfe, Bushaltestellen und Wohnzimmer gehören. Ein Wunsch ist aber noch offen: "Ich würde gern im Weißen Haus spielen", sagt Wagner.
Der Präsident des Verbandes der Deutschen Konzertdirektionen, Michael Russ, sagt, Konzertveranstalter seien immer auf der Suche nach neuen und ungewöhnlichen Spielstätten. Die besonderen Vorzüge von Kirchen seien die intime Atmosphäre und die sehr gute Akustik. Außerdem seien solche Konzerte aus wirtschaftlicher Sicht attraktiv. Eine Konzerthalle für etwa 700 Personen koste ihn rund 2.500 Euro, eine Konzertkirche sei schon für die Hälfte zu haben.
"Antikirchliche Musik passt nicht"
Sigrid Künstner, verantwortlich für Kulturveranstaltungen in der Passionskirche und der Heilig Kreuz Kirche in Berlin, sagt: "Unsere Kirchen sind ein nachgefragter Ort für Konzerte." Für die Gemeinde sei es wichtig, sich als moderne und offene Einrichtung zu zeigen. Außerdem verschlingen die meist alten Gebäude immense Summen an Betriebs- und Instandhaltungskosten - und die Vermietung für Konzerte bringt Geld in die Kassen.
Es wird jedoch genau hingeschaut, wer auftreten darf - bevorzugt Bands, die dann akustisch spielen und auf der Bühne nicht zu exzentrisch agieren. "Antikirchliche Musik passt nicht", sagt Künstner. Auch Shows der Mittelalterszene-Band Corvus Corax seien "immer strittig", sagt die Leiterin von Akanthus Kulturmangement. Die Musiker seien nicht nur wild kostümiert, sondern auch "relativ laut". Trotzdem stehen Corvus Corax nach regelmäßigen Diskussionen im Kulturausschuss doch immer wieder auf der Bühne der Passionskirche. "Letztendlich ist es ja Kunst", sagt Künstner.
Klaus-Martin Bresgott vom Büro der Kulturbeauftragten des Rates der EKD betont, das Konzertleben in den evangelischen Kirchen beschränke sich nicht auf Traditionspflege und ein geistliches Repertoire. "Reformation hört nicht auf. Schon gar nicht in der Musik", sagt er. Die Künstler müssten jedoch den Ort ernst nehmen und dessen Eigenheiten achten - egal ob Jazz-Trio oder Punkband.
Mehr Gemeindemitglieder verbucht die Berliner Kirchengemeinde Heilig Kreuz-Passion durch die Konzerte nicht. "Wir stellen fest, dass es eine Gottesdienstgemeinde und eine Konzertgemeinde gibt. Die mischen sich nicht so sehr", sagt Künstner. "Kirchenkonzerte sind für uns kein 'Köder', um junge Menschen in die Kirche zu locken", betont die Pressereferentin der Deutschen Bischofskonferenz, Daniela Lützeler. Popmusik gehöre zur katholischen Jugendseelsorge vielmehr "selbstverständlich dazu, ganz einfach, weil das zur Lebenswirklichkeit der Jugendlichen gehört".
In der EKD beobachtet man trotzdem eine gewisse Öffnung: Konzerte hätten eine "Sogwirkung", brächten Menschen zusammen und ins Gespräch, sagt Bresgott. "Die Kirche wird als kultureller Ort über seine konfessionelle Bestimmung hinaus wichtig." Oft seien Kirchen zudem die ersten Auftrittsorte für kleine Bands und Ensembles.
Auch US-Sänger Dave Hause wurde christlich erzogen, sang als erstes in der Kirche - und musste nun, wo er mit Musik sein Leben verdient, beim Konzert in Wiesbaden daran zurück denken. Auf der Bühne sei ihm aber auch in den Kopf geschossen: "Rock 'n' Roll hat gewonnen." Die Kirchen könnten ihre Reihen nicht mehr mit Gläubigen füllen, "also füllen sie sie jetzt mit Leuten, die Rock 'n' Roll lieben". Diesen Satz würden die Kirchen so sicher nicht unterschreiben, Bresgott räumt aber ein: "Nicht selten sind Konzerte voller als Gottesdienste. Das ist auch ein Ansporn an die Theologen."
s. auch : contrapunkt # 17 – Kirchenmusik: Andacht ./. Ohnmacht