Berlin (dpa) - «Jeder kennt ein Dorf wie Anatevka», sagt Barrie Kosky am Sonntagabend in der Komischen Oper in Berlin. Gerade ist der Vorhang für das Broadway-Musical gefallen, im lila T-Shirt steht der Hausherr Barrie Kosky auf der Bühne und feiert das Ensemble. Der Australier hat eine riesige Geburtstagstorte auftischen lassen, das Publikum ist aus dem Häuschen.
Anatevka, dieses jüdische Fantasie-Schtetl irgendwo in Russland, stehe für all jene Orte, die heute Millionen Flüchtlinge mit ihren Habseligkeiten verlassen müssten, sagt der Intendant und Chefregisseur. Auch der Milchmann Tevje habe Anatevka auf der Flucht vor den Pogromen der Zarenzeit den Rücken kehren müssen.
Zum 70. Geburtstag der Komischen Oper hat sich Kosky (50), der bunteste unter den Berliner Opernintendanten, einen Wunsch erfüllt. Mit dem US-Kassenschlager von 1964, weltbekannt als «Fiddler on the Roof», knüpft er an die Geschichte des Opernhauses an - und an seine eigene. In Koskys Elternhaus in Melbourne stand wie bei vielen jüdischen Familien «Anatevka» im Plattenschrank. Kosky hörte das Musical als Kind gleichberechtigt neben Sinfonien von Tschaikowsky oder Mahler.
Mit seiner «Anatevka»-Inszenierung brachte es Walter Felsenstein, der die Komische Oper im Dezember 1947 unter sowjetischer Besatzung gegründet hatte, auf den Rekord von 550 Vorstellungen. Die Kosky-Version mit Max Hopp als Tevje und Dagmar Manzel in der Rolle seiner Frau Golde dürfte ebenfalls ein Renner werden.
Das 1964 uraufgeführte Stück von Komponist Jerry Bock und Librettist Joseph Stein nach den Geschichten von Scholem Alejchem wurde ein Welterfolg. Mehr als 3000 Mal wurde es auf dem Broadway gespielt und 1971 von Norman Jewison verfilmt.
Das neue Berliner Anatevka besteht aus aufgetürmten Kleiderschränken. Die Dorfbewohner gehen hier ein und aus, sie verstecken und verlieben sich in den alten Möbeln. Das Bild erinnert an einen Trödelladen, die Schränke stehen für die Tradition, die der Milchmann zum Schutz vor dem Wandel der Zeit immer wieder beschwört. Dass sich die Zeiten ändern, spürt Tevje an seinen aufbegehrenden Töchtern, die sich ihren künftigen Ehegatten nicht mehr von der Heiratsvermittlerin Jente (Barbara Spitz) und dem Vater diktieren lassen wollen.
Tevje versteht die Welt nicht mehr, seine Zwiegespräche mit Gott bringen ihn auch nicht weiter. Warum Gott ihn mit Armut bestraft habe, er hätte ihn ja genauso zu einem reichen Mann machen können («Wenn ich einmal reich wär»). Dass ausgerechnet die gepeinigten Juden das auserwählte Volk sein sollen, will dem Milchmann auch nicht einleuchten. Gott könnte sich mal ein anderes Volk aussuchen.
Bei Kosky spielt ein geigender Teenager aus der Jetztzeit (Maximilian Bergeron) den Fiddler auf dem Dach. Er ist so etwas wie Tevjes Schatten. Nach der Pause verwandelt sich die Szene: Wo bisher Schränke aufgetürmt waren (Bühnenbild: Rufus Didwiszus), steht jetzt nur eine Kommode, es schneit. Die Bedrohung wird spürbar. Irgendwann werden auch die Juden Anatevka verlassen müssen.
Die Dialoge fließen zuweilen hölzern dahin. Da spricht etwa der Anarchist Perchik (Ezra Jung), der Tevjes Tochter Hodel (Alma Sadé) begehrt, von «Arbeitgebern» als Ausbeutern, «Familiennachwuchs» wird gefeiert. Kosky, ein Meister des Entertainment, gibt dem Stück den notwendigen Elan, Schlag auf Schlag folgen die Nummern aufeinander.
Vor allem sorgen Otto Pichlers Choreographie und der Chor für Überraschungen, beklemmend etwa in Tevjes getanztem Alptraum (Kostüme: Klaus Bruns) oder in der russisch-jüdischen Hochzeitszene. Musical-Fachmann Koen Schoots sorgt für schmissigen Sound. Max Hopp spielt und singt den Milchmann als überzeugenden Zauderer, Dagmar Manzel ist die zupackende Frau, allerdings mit einigem Vibrato in der Stimme.
Kosky hat in seiner «Anatevka» auf Folklore-Kitsch und Schtetl-Romantik verzichtet. Er verkneift sich auch Anspielungen auf den Holocaust. Als Regisseur setzt er auf Vergnügen und etwas Nachdenklichkeit - ein Musical eben und kein Lehrstück.
Zu den Premieregästen zählte am Sonntag Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, der vor der Vorstellung in einem Grußwort die Komische Opern als «modernes und selbstbewusstes Musiktheater» würdigte. Die seit Jahrzehnten erfolgreiche Bühne bediene sich einer Sprache, «die selbst im polyglotten Babylon Berlin jeder versteht».
Lederer: Sanierung der Komischen Oper nicht bei laufendem Betrieb
Berlin (dpa) - Kultursenator Klaus Lederer lehnt eine Sanierung der Komischen Oper Berlin bei laufendem Betrieb ab. «Das wird nicht funktionieren, das ist nicht machbar», sagte der Linken-Politiker am Montag im Kulturausschuss des Abgeordnetenhauses. Es sei klar, dass als Ausweichquartier das Schiller Theater in Charlottenburg genutzt werden müsse. Die Frage sei lediglich, ob ausschließlich.
Intendant Barrie Kosky hatte erklärt, ein Umzug der Komischen Oper ins Schiller Theater - wie es zuvor die Staatsoper während ihrer Sanierungszeit gemacht hatte - wäre der «Todesstoß» für sein Haus.
Lederer sagte, er stehe mit Kosky im Gespräch und sei «total aufgeschlossen» für Alternativen. Zumindest für einen Teil der auf fünf Jahre angelegten Generalsanierung werde man aber um das Schiller Theater nicht umhinkommen.
Die Staatsoper Unter den Linden hatte zu Beginn ihrer Spielzeit im Westen stark unter einem Rückgang der Zuschauerzahlen gelitten. Berlin müsse sich darauf einstellen, dass auch die Übergangszeit für die Komische Oper einen großen finanziellen Aufwand bedeute, so Lederer. Die Generalsanierung des Stammhauses in Mitte ist für die Zeit von 2022 bis 2027 geplant.