Leipzig - Ein musikalischer Brückenschlag in Zeiten wachsender Entfremdung auf mancherlei Gebieten: Die vor einem Jahr besiegelte Kooperation zwischen dem Gewandhausorchester Leipzig und dem Boston Symphony Orchestra nimmt konkrete Gestalt an.
Nachdem kurz vor der Amtseinführung des neuen Gewandhauskapellmeisters Andris Nelsons (23. Februar) in Boston eine erste «Leipzig-Woche» mit Konzerten und Gesprächen stattfand, sind nun weitere Projekte geplant: «Wir sind in Boston mit offenen Armen empfangen worden. Die Allianz umfasst viele Projekte», sagte Gewandhausdirektor Andreas Schulz der Deutschen Presse-Agentur.
Ein Punkt betrifft dabei gemeinsame Auftragswerke an Komponisten. Nelsons, der zugleich Music Director des Boston Symphony Orchestra ist, hat in Leipzig den Titel eines Gewandhauskomponisten eingeführt. Ihn trägt in dieser Saison Jörg Widmann. Boston legt einen Schwerpunkt auf das Werk von Sean Shepherd und will in der kommenden Spielzeit neue Stücke von Widmann aufführen. Leipzig wiederum wird sich dann dem Werk von Shepherd widmen. Dazu kommen die jeweiligen Präsentationswochen der Leipziger in Boston und umgekehrt.
Ein zweiter Bereich umfasst den Austausch von Musikern. «Bis zu zwei Musiker gehen für bis zu drei Monate in das jeweils andere Orchester und spielen dort ganz normal ihren Dienst. Wir tauschen dabei Instrument gegen Instrument aus, also beispielsweise Erste Violine gegen Erste Violine», erklärte Schulz. Laut Plan nehmen zwei Kollegen aus Boston am 2. Oktober in Leipzig ihre Tätigkeit auf: «Für sie ist das sehr spannend, weil sie bei uns neben Sinfoniekonzerten auch Oper und Bach in der Kirche spielen können.»
Schulz verwies auf die historischen Verbindungen zwischen beiden Orchestern. Beleg dafür sei nicht allein der Saal des Boston Symphony Orchestra, der praktisch eine Kopie des zweiten Leipziger Gewandhauses aus dem Jahr 1884 ist. Arthur Nikisch (1855-1922) war zuerst Music Director des Boston Symphony Orchestra und später Gewandhauskapellmeister in Leipzig. Der erste Bostoner Chef Georg Henschel hatte seine Ausbildung in Leipzig erhalten, gleiches gilt für andere Dirigenten des amerikanischen Spitzenorchesters.
Ein weiterer Aspekt betrifft die Zusammenarbeit mit Tanglewood: Die Proben- und Konzertstätte ist so etwas wie eine Sommerresidenz des Boston Symphony Orchestra und gibt zugleich einem jährlichen Festival dem Namen. Nach Angaben von Schulz sollen bis zu fünf Studenten aus der Akademie des Gewandhausorchesters die Möglichkeit erhalten, am Tanglewood-Festival teilzunehmen. Im Gegenzug lade man Studenten der dortigen Dirigenten-Ausbildung nach Leipzig ein. Auch die Komponistenklasse soll in die Kooperation eingebunden werden.
«Wir können viel voneinander lernen», betonte Schulz und bezog dabei Bereiche wie das Marketing ein - selbst wenn das Gewandhaus und das Boston Symphony Orchestra auf ganz unterschiedlichen finanziellen Füßen stehen. Der 100-Millionen-Dollar-Jahresetat von Boston speist sich allein aus privaten Geldern, im Hintergrund steht wie bei vielen amerikanischen Orchestern eine Stiftung. Leipzig hat 44 Millionen Euro im Budget, wobei der städtische Zuschuss bei 21 Millionen liegt und der Rest durch Eigeneinnahmen zu erwirtschaften ist.
«Es ist überhaupt kein Ärgernis, dass wir uns Nelsons mit Boston teilen müssen - für uns nicht und auch für Boston nicht», stellte Schulz klar. Der Dirigent werde sich Boston und Leipzig gleichermaßen widmen und begrenze deshalb seine Gastdirigate bei anderen Orchestern: «Er macht jetzt mehr Boston und mehr Leipzig.» Auch bei den Gastspielplänen gebe es eine Abstimmung. So werde man nicht im gleichen Jahr eine Asientournee absolvieren. Die Kooperation zwischen Boston und Leipzig sei eine klassische Win-Win-Situation.