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Berliner Kultmusical «Linie 1» bekommt ein Update. Foto: Grips Theater
Berliner Kultmusical «Linie 1» bekommt ein Update. Foto: Grips Theater
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«Linie 1» nach 37 Jahren neu inszeniert: «Fahr mal wieder U-Bahn»

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Berlin - Die Aufführungen des 80er-Jahre-Musicals «Linie 1» in Berlin sind immer noch schnell ausverkauft. Nun ist erstmals die Inszenierung von 1986 überarbeitet worden. West-Berlin ist hier aber immer noch die Stadt, «wo in allen Richtungen Osten ist».

U-Bahn-Abenteuer einer Unschuld vom Lande: Das vor 37 Jahren uraufgeführte Großstadt-Musical «Linie 1» wird seit Donnerstagabend im Berliner Grips-Theater in einer neuen Inszenierung gezeigt. Nach fast 2000 Aufführungen der Version des Regisseurs Wolfgang Kolneder (1943-2010) haben die Macher jetzt erstmals einiges verändert - zum Beispiel Kostüme, Maske und Choreographien. Auch die Musik-Arrangements wurden überarbeitet, so erklingt etwa das Saxofon nun mit deutlich weniger vom typischen 80er-Jahre-Hall. Und auch das Bühnenbild wurde «modernisiert» - statt eines «Bockwurst»-Stands gibt es jetzt die Aufschrift «Trudes Imbiss».

Die Hauptrolle der «Natalie aus der Provinz» spielt nun Helena Charlotte Sigal (26), die erst im Februar in der Fernsehsendung «Wer stiehlt mir die Show?» von Joko Winterscheidt zu sehen war, die sie sogar gewann und dann zur Primetime bei ProSieben moderieren durfte. Aber es gibt auch eine konstante Größe: Der 83-jährige Dietrich Lehmann, der in jeder der sage und schreibe 1969 Aufführungen alter Art dabei war, spielt nach wie vor mehrere Rollen, unter anderem eine Wilmersdorfer Witwe (Liedzitat: «Vom Ku'damm bis zum KaDeWe sind wir die Sahne im Kaffee...») und den unverdrossenen Rentner Hermann («Es ist herrlich zu leben»).

Die Revue «Linie 1» von Volker Ludwig (85) mit Musik von Birger Heymann (1943-2012) und der Rock-Band No Ticket hatte am 30. April 1986 Premiere gefeiert. April 1986: Das war der Monat, in dem das Atomkraftwerk in Tschernobyl in der Ukraine (damals Sowjetunion) explodierte und in dem in Berlin-Friedenau auf die bei US-Soldaten beliebte Diskothek «La Belle» ein Bombenanschlag verübt wurde.

Das Mitte der 80er angesiedelte Stück erzählt die Geschichte einer jungen Frau aus Westdeutschland, die auf der Suche nach dem Berliner Rockmusiker Johnny ist, mit dem sie auf dessen Tour was hatte und den sie als ihren Märchenprinzen verklärt. Angekommen in Berlin («6 Uhr 14 Bahnhof Zoo») trifft sie in der U-Bahn in Richtung Kreuzberg allerhand Leute und Berliner Typen. Lieder wie «Du sitzt mir gegenüber», «Fahr mal wieder U-Bahn» oder «Mut zum Träumen» sind Ohrwürmer. Der Song «Marias Lied (Du bist schön auch wenn du weinst)» wurde einst von den Beatsteaks gecovert, auch der Rapper Sido benutzte ihn 2009 in seinem Hit «Hey Du», den er bei «MTV Unplugged» dann mit dem Comedian Kurt Krömer performte.

«Linie 1» hat sich in vier Jahrzehnten zu einem Klassiker entwickelt und gehört zum Westberlin-Mythos wie David Bowie, «Wir Kinder vom Bahnhof Zoo» und «Drei Damen vom Grill». Textlich wurde vor mehr als 20 Jahren öfter mal an «Linie 1» geschraubt, doch seit September 2004 wird «Linie 1» bewusst wieder in der Originalfassung von 1986 gespielt. West-Berlin ist hier noch die ummauerte Stadt, «wo in allen Richtungen Osten ist» und wo es «Haste mal ne Mark?» heißt (und nicht angepasst «Haste mal 'nen Euro?»).

Berlin wird als «Studentenhalde», «Schulabgänger-Deponie» oder auch «Touristennepp für Wessipack» besungen, mit Worten wie «Du Hauptstadtmurks, du Klüngel-Pest» oder auch «Synchronsprechernest». Während der Pandemie sei der Wunsch im Haus aufgekommen, schreibt das Theater-Team, «diese zwar in den 80er Jahren verankerte, dennoch zeitlos schöne Geschichte vom Leben und Überleben in einer Großstadt mit dem Blick von heute neu zu betrachten und zu inszenieren». Bei der Neu-Inszenierung führte der 48 Jahre alte Tim Egloff Regie.

Die linksalternative Jugendbühne Grips-Theater liegt zwischen den auch bei Touristen bekannten Berliner S-Bahnhöfen «Tiergarten» und «Bellevue», direkt an der U-Bahn-Station «Hansaplatz», die jedoch zur U9 und nicht zur Linie 1 gehört.

«Linie 1» ist laut Grips-Theater «der größte Erfolg, den ein deutsches Musical je hatte» - zum Beispiel mit einer Adaption in Südkorea («Seoul Line 1»). Jahrelang sei es das meistinszenierte, meistaufgeführte und meistbesuchte Theaterstück im deutschsprachigen Theaterraum gewesen und habe Volker Ludwig in den 90ern «zum meistgespielten Autor nach Shakespeare, Brecht und Molière» gemacht.

1988 kam es sogar zu einem Gastspiel in der DDR (Karl-Marx-Stadt, Dresden, Halle). Auftritte etwa in Dänemark, Schweden, Russland, Tschechien und Indien gab es sowieso. Seit 2015 gibt es eine englische Übertitelung, die «Linie 1» auch internationalen Berlin-Besuchern besser zugänglich macht.

Während der Corona-Pandemie war ab März 2020 nach gut 1900 Vorstellungen über 20 Monate Spielpause. Am 7. Januar 2023 lief die 1969. und letzte Vorstellung der Original-Inszenierung von 1986 von Wolfgang Kolneder. Für die neue Inszenierung sind bis Mitte Juli schon mehr als 15 Termine angesetzt.

Im Lied «Fahr mal wieder U-Bahn» gibt es eingängige Textzeilen wie «Sparste Fernsehn, taz und FAZ; Kino, Peepshow, Zoo und Knast». Oder auch Sozial- und Gesellschaftskritik: «Fahr mal wieder U-Bahn - Linie 1; Schau dir mal die Menschen an (...); Wenn wieder wer vom «Aufschwung» sülzt; «Vertrauen», «Glück» und «Wohlstand» rülpst; Auf Wachstum und auf Zukunft schwört; Und nie im Leben U-Bahn fährt...»

 

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