Bremerhaven - Rio Reiser lieferte mit Liedern wie «Keine Macht für Niemand» in den 1970er Jahren den Soundtrack zur Hausbesetzer-Szene. Heute werden seine Parolen wieder auf Demos gerufen. Das Stadttheater Bremerhaven bringt eine Inszenierung über das Leben des Sängers zur Uraufführung.
Dass ein Theater ein leerstehendes Haus besetzt, passiert nicht alle Tage: So geschehen am 9. Januar 2020 in Bremerhaven. Wer aber weiß, dass an dem Tag Sänger und Gründungsmitglied der Politrockband «Ton Steine Scherben» Rio Reiser 70 Jahre alt geworden wäre, der bekommt schon einen Hinweis auf den Grund für die ungewöhnliche Aktion. Mit der Hausbesetzung wollte sich das Stadttheater Bremerhaven auf die Uraufführung des Stücks «Rio Reiser - Wer, wenn nicht wir?» am Samstag (15. Februar) im Großen Haus einstimmen.
Mit Liedern wie «Keine Macht für Niemand» und «Macht kaputt, was euch kaputt macht» schaffen Rio Reiser und seine Band in den 1970er Jahren Hymnen für die linke Jugend und die Hausbesetzer-Szene. Bei jeder Hausbesetzung in Berlin sind auch die «Scherben» dabei. Textzeilen wie «Ihr kriegt uns hier nicht raus! Das ist unser Haus, schmeißt doch endlich Schmidt und Press und Mosch aus Kreuzberg raus» werden noch heute gesungen.
Wenn die Schauspieler Henning Bäcker als Rio und Marc Vinzing als sein Bandkollege Lanrue - begleitet von einer sechsköpfigen Band - den «Rauch-Haus-Song» singen, ist auf der Bühne eine Art Barrikade aus Möbeln, Kühlschränken und Herd zu sehen. Wie im Rausch dreht sich die Band-Bühne im Kreis, auf dem Tisch stehen leere Bier- und Weinflaschen. Im Hintergrund bekommen die Zuschauer Originalfilme von Demos, Hausbesetzungen und gewalttätigen Polizeieinsätzen zu sehen. «Schreib die Musik zur Revolution», wird Reiser auf der Bühne aufgefordert.
Das Stück aus der Feder von Ingo Putz, der auch Regie führt, beginnt mit der aufgeheizten Stimmung in West-Berlin anlässlich des Schah-Besuchs 1967 und der Gründung der Band 1970. Die Rockgruppe war eine der ersten, die rebellische Texte auf Deutsch sang - damit traf sie den Nerv der linken Protestbewegung. Die provokanten Song-Titel stehen in großen Lettern auf Bannern, die rechts und links neben der Theaterbühne aufgehängt sind.
Rio Reisers spätere Solokarriere nach der Auflösung der Band 1985 inklusive seines größten Hits «König von Deutschland» reißt die Inszenierung nur kurz, aber eindrucksvoll an. «Ich wollte kein Biopic, keine Aneinanderreihung von Fakten, sondern zeigen, dass Musik Menschen verändern kann», sagt Ingo Putz.
«Ton Steine Scherben» werden zu Ikonen der Protestbewegung, die Forderungen ihrer Fans damit aber auch immer lauter. «Sie sollten bei jeder Hausbesetzung spielen, am liebsten umsonst», sagt Putz. Die Band verlässt schließlich Berlin und zieht nach Fresenhagen in Nordfriesland. «Der Druck war zu groß geworden», sagt Ingo Putz, der die Landflucht im zweiten Teil des Stückes thematisiert. In der Provinz werden sie von argwöhnischen Bauern beäugt. «Den einen sind wir zu radikal, den andern nicht radikal genug», lässt Putz seinen Protagonisten Reiser sagen.
Radikal war das Stadttheater Bremerhaven mit seiner Hausbesetzung im Januar dagegen ganz und gar nicht: Die Aktion war abgesprochen, ein Polizist geleitete den Demonstrationszug sogar fürsorglich bis zum leerstehenden Haus.