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„Musaik“: Musikpädagogisches Projekt ist den Kinderschuhen entwachsen

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„Einer für alle, alle für einen“: Das Motto der legendären Musketiere könnte auch für die Mädchen und Jungen im Dresdner Projekt „Musaik“ gelten. Kinder aus vielen Ländern üben hier gemeinsam den Wohlklang und geben ein Beispiel für grenzenloses Musizieren.

Dresden – „Scho-Ko-La-De, Scho-Ko-La-De“ hallt es durch die Klassenzimmer einer Dresdner Grundschule. Allerdings ist das kein Schlachtruf für Naschkatzen. Die Pädagoginnen und Pädagogen des Projektes „Musaik“ wollen damit vielmehr den Heißhunger von Kindern auf Musik nähren. Jede einzelne Silbe von Schokolade steht für einen Bogenstrich auf Geige, Bratsche oder Cello. Auf diese Weise bekommen die Mädchen und Jungen auch ein Gefühl für Gleichklang und Harmonie.

Musikalisches Sozialprojekt oder soziales Musikprojekt. Egal worauf man den Fokus bei „Musaik“ legt, das Konzept ist auch sechs Jahre nach der Gründung noch immer faszinierend. Doch während man anfangs vielfach aufs Improvisieren angewiesen war, bekommt es nun immer stärker Konturen. Derzeit erhalten hier etwa 100 Mädchen und Jungen aus 22 Ländern drei Mal in der Woche kostenlosen Musikunterricht – in einer Schule im Stadtteil Prohlis, der als sozialer Brennpunkt gilt.

„Musaik“ entstand 2017 nach dem Vorbild von „El Sistema“: Der Komponist und Ökonom José Antonio Abreu aus Venezuela hatte das Sozialprojekt in seinem Heimatland Mitte der 70er Jahre gegründet. Es gibt Kindern ärmerer Familien kostenlos Unterricht und Instrumente.

Im Gegenzug spielen sie in Ensembles mit. „Musaik“-Gründerin Luise Börner hatte „El Sistema“ in abgewandelter Form in Peru erlebt, als sie nach dem Studium zwei Freiwillige Soziale Jahre dort verbrachte.

In Dresden ist „Musaik“ nun den Kinderschuhen entwachsen, von einem Selbstläufer will Börner dennoch nicht sprechen. Mit wachsenden Strukturen kam auch mehr Arbeit dazu. Inzwischen gibt es neben dem Unterricht jährlich fünf Produktionen. Dafür werden auch Spenden benötigt. 2022 stiftete die Sächsische Staatskapelle Dresden Geld, das sie für den Karajan-Preis erhielt.  

Die Methodik hat sich seit den Anfängen erweitert. Als Anfänger spielen die Streicher noch nicht mit einem richtigen Bogen, dafür muss zunächst ein „Bogenführerschein“ gemacht werden. Instrumente dürfen erst nach einem Jahr Zugehörigkeit mit nach Hause genommen werden. Der Lehrkörper ist international und umfasst 15 Musikerinnen und Musiker aus mehreren Ländern. Kinder, die schon lange dabei sind, arbeiten manchmal als Assistenten mit. Sechs Stunden Unterricht gibt es pro Woche, gespielt wird ausschließlich in Gruppen. 

Dreh- und Angelpunkt sei die klassische Musik und das Orchesterspiel, sagt Lukas Pohlmann, zuständig für Öffentlichkeitsarbeit. Es gehe darum, Kindern in ihrer Entwicklung etwas Gutes zu tun, um „sozialen Kitt“: „Wir machen hier keine Spitzenförderung. „Musaik“ ermögliche Kindern und Jugendlichen eine musikalische Ausbildung und fördere so ihre soziale Integration und kulturelle Teilhabe. „Die Initialzündung für eine Teilnahme kommt in der Regel nicht von den Eltern. Die Kinder selbst wollen das“, betont Luise Börner.

Nachwuchs schöpft „Musaik“ aus Grundschulen der Stadtteile Prohlis und Leuben. Mädchen geben dabei den Ton an. Bei den Bläsern sind deutsche Kinder in der Überzahl, bei den Streichern sind es die mit ausländischen Wurzeln. Die meisten von ihnen stammen aus Syrien, so wie die 14 Jahre alte Hala. 2015 war sie mit ihrem Vater übers Mittelmeer nach Europa gekommen – nachts, zuerst im Schlauchboot, dann auf einem größeren Schiff. „Ich hatte Angst, das Schiff hat ein Geräusch gemacht, dass klang wie die C-Saite eines Cellos.“

Das hat Hala freilich erst später herausgefunden. Denn bis dahin hatte sie keinen Musikunterricht. Als die Familie später in Dresden wieder vereint war, hat Halas Mutter sie und eine jüngere Schwester zu „Musaik“ geschickt. Hala spielt nun Cello, die Schwester Bratsche.

„Das Zusammenspiel mit anderen macht besondere Freude“, sagt die junge Cellistin. Es hätten sich auch Freundschaften gebildet. Früher habe sie etwa kaum mit Lysann – einem Mädchen aus der Cello-Gruppe – geredet. „Jetzt verstehen wir uns besser.“

Die 16-jährige Lysann ist eine waschechte Dresdnerin und gleichfalls von Anfang an dabei. Anders als Hala will sie Musik später aber nicht studieren und zu ihrem Beruf machen. Ihr schwebt eine Lehre als Restaurantkauffrau vor, danach will sie Konditorin werden. Torten seien schließlich auch eine Kunst, meint das Mädchen und lacht.

„Früher habe ich getanzt, aber eigentlich wollte ich schon immer ein Instrument spielen“, sagt Lysann, die Chopin und Beethoven mag. Bei „Musaik“ hat sie ihren Traum nun erfüllen können. Derzeit bereiten sich die beiden Mädchen auf das Projekt „NeustadtSounds“ vor. Damit geht es praktisch auf Tournee durch die eigene Stadt – genauer gesagt in die Neustadt ans andere Elbufer.

Börner weiß, dass viele Kinder aus Prohlis ihr Viertel sonst kaum verlassen und auch aus ihrem sozialen Umfeld nicht herauskommen. Bei den Musikfestspielen in Dresden spielen sie nun sogar mit einem renommierten Cellisten. Der „Musaik“-Verein hat Festspielintendant Jan Vogler eingeladen, gemeinsam mit den Kindern zu musizieren.

Börner berichtet davon, dass „Musaik“ auch die Eltern der Kinder einander näherbringt. „Sie sitzen zusammen im Publikum, sind stolz auf ihre Kinder und das Ergebnis des Unterrichts. Das schafft Gemeinsamkeit.“ Ähnlich beschreibt es Pohlmann: „Da begegnen sich Leute, die sich sonst auf der Straße vermutlich nicht anschauen würden, und hören gemeinsam Musik. Jeder der jungen Musikerinnen und Musiker bringe vier, fünf Angehörige mit zum Konzert.“

So dürfte es auch am 28. Juni sein, wenn die „NeustadtSounds“ mit einem Konzert in einer Turnhalle in Prohlis ausklingen. Für Pohlmann eine ideale Spielstätte: „Es geht nicht darum, die beste Tonqualität zu erzeugen. Es muss ein Ort sein, der für die Leute keine Hemmschwelle bedeutet. Viele von ihnen haben sonst keinen Kontakt zur klassischen Musik“. Börner vergleicht „Musaik“ ohnehin mit einem Sportangebot: „Hier agiert man im Team. Es entsteht ein soziales Gefüge und eine Gemeinschaft, auf die man sich verlassen kann.“ 

Die 36-Jährige ist noch immer beseelt, bei „Musaik“ Teil eines Ganzen zu sein. Bereut hat sie ihr Engagement nie. „Ich würde es wieder machen. Die Arbeit ist mir sehr wichtig, eine tolle Bereicherung. Und ich merke immer noch, dass ich dabei selbst etwas lerne.“ Das gelte nicht zuletzt auch für das soziale Umfeld. Prohlis sei speziell, ganz anderes als andere Stadtteile, meint die Musikerin. „Ich bin immer wieder dankbar, meine Blase verlassen zu können und mit Leuten in Kontakt zu kommen, denen ich sonst nicht begegnen würde.“

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