Kiel - Oper als Comic, geht das? In Kiel feierte Rossinis absurde Oper «Die Reise nach Reims» eine grandiose Premiere. Das burleske Treiben auf der Bühne wurde auf die Spitze getrieben durch Trickfilmszenen auf einer Mega-Leinwand als Bühnenhintergrund - ein Riesenspaß.
Mit Bravo-Rufen und großem Beifall ist eine in Deutschland bisher einzigartige Inszenierung von Rossinis vergnüglicher Oper «Die Reise nach Reims» in Kiel gefeiert worden. Reale Sänger agierten gemeinsam mit gigantischen Comicfiguren, die auf einer riesigen Leinwand als Bühnenhintergrund gezeigt wurden. So entstand am Samstagabend eine fast surreale Täuschung der Sinne mit kitschig-schönen, aber auch satirisch-frivolen Traumbildern. Die Inszenierung - eine Gemeinschaftsproduktion der Theater Kiel, Lübeck und Verona - schuf eine neue Dimension von Oper.
Wie bei der illusionistischen Malerei eines Trompe-l'?il wird eine Mehrdimensionalität vorgetäuscht - etwa wenn in einer Trickfilmszene Äpfel aus einer Schale fallen und dann tatsächlich Früchte auf die Bühne kullern. Oder wenn von der Leinwand ein gezeichneter Amor einen Pfeil abschießt auf einen liebestrunkenen Protagonisten auf der Bühne und dieser dann tatsächlich einen Pfeil im Hintern stecken hat. Oder ein geiler Franzose wie ein Exhibitionist seinen Mantel öffnet hin zur Leinwand und dort ein Elefantenrüssel erscheint und dessen Ende wie ein Mund die Arie singt.
Rückblende: Rossini hatte 1825 als neuer Leiter des Theatre-Italien in Paris die Oper «Il viaggio a Reims» extra zur Krönung des französischen Königs Karl X. verfasst - eine spaßige, augenzwinkernde Huldigung, aber nicht nur: So wurden auch die Eigenheiten der europäischen Völker karikiert und die Einheit Europas beschworen. Das Premierenpublikum soll sich damals gefreut und der König gegähnt haben - was dieser als Büste im Trickfilm bei den größten Sanges-Elogen auf ihn denn auch macht.
In mühevoller Kleinarbeit wurde die zum Teil lange verschollene Partitur rekonstruiert und erstmals 1984 beim Rossini-Festival in Pesaro unter der Leitung von Claudio Abbado glanzvoll wiederaufgeführt. Seitdem hat dieses Werk mit seiner wunderschönen Belcanto-Musik einen Siegeszug an vielen Opernhäusern angetreten.
Die Handlung in Kurzform: Auf dem Weg zu den Krönungsfeierlichkeiten von Karl X. in Reims bleiben Reisende verschiedener europäischer Nationalitäten in einem Badehotel stecken, weil eine Postkutsche verunglückt ist. Am Ende dürfen alle weiter nach Paris, weil Karl X. dort ein zusätzliches Fest angesetzt hat. Im Comic stürzt am Ende auch diese Kutsche in den Abgrund.
In Kiel hat ein italienisches Regieteam eine neue Dimension von Oper entfaltet. Regisseur Pier Francesco Maestrini inszeniert deftig-ironisch, die entsprechenden Trickfilmsequenzen schuf der italienische Cartoonist Joshua Held. Die beiden Italiener sind ein eingespieltes Team. Beide leben in Florenz und kennen sich seit Jahrzehnten. Ihre erste Comic-Oper war Rossinis «Barbier von Sevilla» im Jahr 2010. Den schwülstigen Pathos der Liebesschwüre oder der Verehrungen von König Karl X. in der «Reise nach Reims» brechen Maestrini und Held immer wieder.
Nur eine aktuelle politische Anspielung gönnt sich die Inszenierung. Als die Protagonisten der verschiedenen Länder Karl X. huldigen sollen, singt der Engländer die englische Hymne «God save the King». Im Hintergrund ist eine Europakarte zu sehen, alle Länder, auch Russland, sind mit der Europafahne geziert, nur Großbritannien nicht. «Brexit» leuchtet am Rande des Comics auf - und auf der Bühne ziehen alle anderen Europäer an einem um das Inselreich geworfenes imaginäre Lasso. Selbst auf der Landkarte will England weg von Europa. Die Europäer schaffen es, England zumindest geografisch zu halten, und das Publikum johlt und spendet begeistert Szenenapplaus.
Von Anfang an haben Cartoonist und Regisseur eng kooperiert. «Wir haben immer wieder die Musik angehört, Ideen zu den verschiedenen Personen entwickelt und für jede Szene eigene Bewegungen entworfen», erklärte Held.
Von den Solisten, dem Chor und dem Philharmonischen Orchester Kiel unter der Leitung seines stellvertretenden Generalmusikdirektors Daniel Carlberg forderte dies Präzisionsarbeit. Carlberg, der ebenso gefühl- und temperamentvoll dirigierte, gelang dies mit Bravour. Auch die gesanglich durchweg überzeugenden Solisten und der ebenso gefallende Chor meisterten das synchrone Spiel mit den Comicfiguren. Der lange Schlussapplaus galt denn auch allen Beteiligten.
Die aufwendige Inszenierung wird am 5. Februar mit einem anderen Ensemble Premiere in Lübeck haben und im Mai in der Arena di Verona.