Recklinghausen - Keimzelle der Ruhrfestspiele war ein klassischer Deal im kalten Winter 1946: Kohle gegen Kunst. Im Abschiedsjahr vom Steinkohlebergbau kümmert sich das renommierte Theaterfestival um das Thema «Heimat».
Der Beginn der Ruhrfestspiele ist fast schon Legende: Im harten Nachkriegswinter 1946 halfen die Bergleute aus dem Ruhrgebiet den frierenden Schauspielern aus Hamburg. Die Künstler bekamen die ersehnte Kohle, die Kumpel im Gegenzug Kultur. 2018 aber geht im Ruhrgebiet der Steinkohlebergbau nach einem kräftezehrenden Niedergang endgültig zu Ende: Im Dezember ist die letzte Schicht in der Zeche Prosper Haniel in Bottrop, die letzten Bergleute verlieren ihre Arbeit. Und die Ruhrfestspiele ihren Schwung?
Im Gegenteil. Wie ein trotziges «Jetzt erst recht» trumpft das Programm von Festspielintendant Frank Hoffmann auf in seiner letzten Saison in Recklinghausen. Große Namen, große Bühnen reisen in die einstige Bergarbeiter-Stadt. Das Wiener Burgtheater, das Deutsche Theater Berlin, das Schauspiel Stuttgart und das Berliner Ensemble kommen an den nördlichen Rand des Ruhrgebiets.
Auf die Bühne treten Schauspieler wie Burghart Klaußner («Das weiße Band», «Der Staat gegen Fritz Bauer»), Nina Hoss, Corinna Harfouch, Devid Striesow, die US-amerikanischen Schauspieler John Malkovich und Bill Murray, Sänger wie Ute Lemper und Konstantin Wecker.
Mit einem Kulturvolksfest geht es am 1. Mai los. Die Ruhrfestspiele dauern sechs Wochen bis zum 17. Juni. Im Programm stehen 111 Produktionen in 298 Aufführungen: Theater, Tanz, Lesungen, Kabarett, Konzerte und auch Mitsingabende mit der Bergarbeiterhymne «Steigerlied».
Leitmotiv ist im Jahr des Steinkohleabschieds der schwierige Begriff «Heimat». Das kann Herkunfts- und Wohnort sein, ein Gefühl, ein Teil der Identität, gemeinschaftsstiftend oder auch ausgrenzend - vielschichtig auf jeden Fall. «Heimat beschreibt auch etwas, das in der Zukunft liegen könnte, eine Überwindung der Gegensätze, einen utopischen Begriff», meint Intendant Hoffmann.
Der Luxemburger Theatermann führt Regie in der Eröffnungsproduktion. Das Wiener Burgtheater zeigt die tragische Komödie «Der Besuch der alten Dame» von Friedrich Dürrenmatt um eine folgenschwere Rückkehr in die Heimat. Der Dramatiker Albert Ostermaier nähert sich zum Ende des Festivals von anderer Warte: Er hat sich ein avantgardistisches Projekt von Bert Brecht und Kurt Weill aus den 1920er Jahren vorgenommen und liefert die Abschlussproduktion. «Die verlorene Oper - Ruhrepos» soll ein Werk über und für das Ruhrgebiet werden. Der isländische Regisseur Thorleifur Örn Arnarsson bringt es als Musiktheater auf die Bühne.
Die Festspiele können vielleicht etwas Balsam liefern für das emotionale Ende des lange prägenden Steinkohlebergbaus. Wie erbarmungslos es dabei im Nachbarland Großbritannien zuging, schildert das englische Tanztheater «Coal»: Das Epos über den nordenglischen Bergbau thematisiert die harte Arbeit unter Tage, aber auch den langen Bergarbeiterstreik gegen Gruben-Schließungen zu Zeiten der Regierung von Margaret Thatcher. Die «Eiserne Lady» gewann.
Der amerikanische Schauspieler John Malkovich schlüpft in die Rolle eines Kritikers. In «The Music Critic» zitiert er einen Abend lang gemeine Fehlurteile und Schmähungen über einige der bedeutendsten Werke der Musikgeschichte. Und Hollywood-Star Bill Murray bringt mit Star-Cellist Jan Vogler Musik und große Literatur auf die Bühne.
Mit diesen Festspielen nimmt Hoffmann Abschied nach 14 Intendanten-Jahren. Mit seinen thematischen, an den Menschen orientierten Schwerpunkten hat er das Publikum gepackt und die Zuschauerzahlen vervielfacht. Zehntausende Besucher habe der Luxemburger mit jeder Spielzeit begeistert, lobt Christian Kullmann, der Chef des Chemie-Spezialisten Evonik, der zu den Sponsoren zählt. Geldgeber ist auch der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB). Hoffmanns Nachfolger steht schon lange fest: Es ist Olaf Kröck, derzeit Intendant am Schauspielhaus Bochum, ganz in der Nachbarschaft.