Salzburg - Rekonstruktionen alter Operninszenierungen haben Konjunktur - nach der Opéra de Lyon holen jetzt die Salzburger Osterfestspiele eine Karajan-«Walküre» von 1967 wieder hervor. Was sagt das über den Zustand des zeitgenössischen Regietheaters?
Operninszenierungen sind nicht für die Ewigkeit gemacht. Oft verschwinden sie nach wenigen Jahren in den Archiven, die teuren Bühnenbilder werden verschrottet. Dann dürfen sich neue Regisseure an alten Stoffen abarbeiten. Eine Inszenierung wiederzubeleben, die bereits vom Spielplan verschwunden ist, ist ein Wagnis, für manche gar eine Provokation. Bei den diesjährigen Salzburger Osterfestspielen will man das Wagnis eingehen. Zum 50-jährigen Bestehen des von Herbert von Karajan gegründeten Nobel-Festivals wird dessen «Walküre»-Deutung von 1967 im Bühnenbild von Günther Schneider-Siemssen nach einem halben Jahrhundert zu neuem Leben erweckt.
Schon bringen sich die Kritiker in Stellung. «Reaktionär» nennt der Münchner Theaterkritiker und Buchautor C. Bernd Sucher das Vorhaben, das auf eine Idee von Christian Thielemann zurückgeht. Der als konservativ bekannte Karajan-Schüler bestreitet seit 2013 mit der Sächsischen Staatskapelle Dresden die Osterfestspiele und wird die wiederbelebte Karajan-«Walküre» selbst dirigieren.
«Kunst entwickelt sich nicht, in dem Dinge konserviert werden, die der Lebendigkeit bedürfen», sagte Sucher der Deutschen Presse-Agentur. «Die Kunstwerke auf Bühnen sind flüchtig und verändern sich sogar von einer zur nächsten Aufführung. Was weg ist, ist weg - und die Vorstellung, dass irgendein drittklassiger Regisseur etwa Patrice Chéreaus Bayreuther Jahrhundert-«Ring» nachstellt, finde ich eher beängstigend.» Damit liegt er auf einer Linie mit Münchens Staatsopernchef Nikolaus Bachler: «Eine Inszenierung entsteht für den Moment, als kreativer Prozess von Künstlern. Daher ist eine Rekonstruktion unmöglich und sinnlos.»
So schlimm wird es in Salzburg nicht kommen, zumal Regisseurin Vera Nemirova eine Neuinszenierung in einem rekonstruierten Bühnenbild plant. Denn allzu viel von damals ist nicht mehr vorhanden: die Dekoration existiert nicht mehr, nur noch Entwurfszeichnungen, Fotos, technische Unterlagen, ein paar Filmdokumente von Proben. «Die Reibung zwischen dem Alten und dem Neuen, zwischen Tradition und Gegenwart finde ich sehr spannend», sagte Nemirova der «Opernwelt». «Schneider-Siemssen hat damals einen hochgradig abstrakten Theaterraum entworfen, der absolut zeitlos ist. Man bewegt sich da in keinem Moment in einem Theatermuseum; wir werden versuchen, diesen Raum neu aufzuladen.»
Pop-Art, Hippiebewegung, Vietnamkrieg, die sich ankündigende Studentenrevolte: die späten 1960er-Jahre waren eine Zeit der Veränderung. Schneider-Siemssen und Karajan hätten damals eine «Sehnsuchtswelt» entworfen, auf Archaik, Natur und Mythen zurückgegriffen, sagt Nemirowas Bühnen- und Kostümbildner Jens Kilian in einem Interview mit den Osterfestspielen. «Somit stand die «Walküre» damals in deutlichem Kontrast zu dem, was in der Welt rundum geschah (...) Ich glaube, es ging dabei um die Suche nach dem Sinn inmitten von Wirren und Unruhen und des Umbruchs», sagt Kilian. Parallelen zum Heute sind offensichtlich.
Die Wiederbelebung exemplarischer Produktionen scheint Konjunktur zu haben. So reaktivierte die Opéra de Lyon gerade Ruth Berghaus' Dresdner «Elektra» (Richard Strauss) von 1986, Heiner Müllers Bayreuther «Tristan» (Richard Wagner) von 1993 und Klaus Michael Grübers für die Festspiele von Aix en Provence geschaffene «Poppea» (Claudio Monteverdi) von 2002. Im Juni will die Mailänder Scala Giorgio Strehlers legendäre Produktion von Mozarts «Entführung aus dem Serail» aus dem Jahr 1965 wieder ins Programm nehmen. Die bisherigen Kritiken sind sehr gemischt. «Experiment gewagt, Experiment gescheitert? Aus vollen Herzen: ja», urteilte die «Zeit». Dagegen befand die «Süddeutsche Zeitung», dass die Wiederbelebung alter Inszenierungen durchaus sinnvoll sein könne, wenn sie «überzeitliches Potenzial» hätten.
Der Rückgriff auf alte Erfolgsinszenierungen wirft auch ein Licht auf den Zustand des heutigen Musiktheaters. Das politisch korrekte sogenannte Regietheater mit seinen oft schwer zu deutenden Regiekonzepten und geplanten Provokationen scheint abgewirtschaftet zu haben. «Einen Skandal wie einst können Produktionen des Regietheaters heute kaum noch hervorrufen», sagt der Musiktheaterexperte Anno Mungen, Professor an der Universität Bayreuth. Regietheater sei heute selbst auf eine bestimmte Art konservativ» und fast zu einer Doktrin erstarrt.
Noch etwas drastischer formuliert es der Züricher Musikwissenschaftler Lorenz Lütteken, der für seine pointierten Ausfälle gegen die zeitgenössische Opernregie bekannt ist und erzkonservative Opernregisseure wie Otto Schenk oder Peter Stein verehrt. Er stehe dem Lyoner wie dem Salzburger Unternehmen zwar skeptisch gegenüber, «weil doch jede Zeit ihre eigenen Zugänge entwickeln» müsse. «Nur der verdrehte Irrsinn unserer Tage ist eben kein Zugang, sondern eine Kapitulation.» Theaterkritiker Sucher sagt: «Wer wissen will, wie in den siebziger, achtziger und neunziger Jahren inszeniert wurde, kaufe sich die DVDs.»
Bewegte Geschichte - Die Salzburger Osterfestspiele
Die Salzburger Festspiele feiern 2020 ihr 100-jähriges Bestehen. Die Pfingstfestspiele sind rund 20 Jahre alt. Die Osterfestspiele haben eine 50-jährige Geschichte. Ein Überblick:
1967 - Herbert von Karajan gründet die Salzburger Osterfestspiele, um seinen Berliner Philharmonikern auch szenische Opernproduktionen zu ermöglichen. Als erste Inszenierung kommt Richard Wagners «Walküre» heraus. Wegen der stattlichen Eintrittspreise - Grund ist vor allem der hohe Eigenfinanzierungsgrad - erwerben sich die Festspiele schnell den Ruf eines «Luxusfestivals».
1989 - Nach Karajans Tod übernimmt für zwei Jahre Sir Georg Solti das Festival.
1994 - Mit einer von den Salzburger Festspielen übernommenen Inszenierung von Modest Mussorgskys «Boris Godunow» beginnt die Ära Claudio Abbados. Abbado begründet die Kammermusikreihe «Kontrapunkte» innerhalb des Festivals.
2003 - Der neue Chef der Berliner Philharmoniker, Sir Simon Rattle, wird künstlerischer Leiter der Osterfestspiele.
2009 - Die Osterfestspiele werden von einem Finanzskandal erschüttert.
2011 - Paukenschlag in Salzburg: Die Berliner Philharmoniker geben ihren Rückzug von der Osterfestspielen bekannt und begründen ab 2013 im Festspielhaus Baden-Baden eine neue Osterfestspieltradition.
2013 - Neuer künstlerischer Leiter der Osterfestspiele wird der Karajan-Schüler Christian Thielemann zusammen mit seinem Orchester, der Sächsischen Staatskapelle Dresden.
2015 - Der ehemalige Intendant der Salzburger Festspiele, Peter Ruzicka, übernimmt die Aufgabe eines geschäftsführenden Intendanten der Osterfestspiele.
2017 - Zu ihrem 50-jährigen Bestehen präsentieren die Salzburger Osterfestspiele unter Christian Thielemann eine Rekonstruktion der «Walküre»-Inszenierung Herbert von Karajans aus dem Jahre 1967.