Bochum - Zum Start seiner Intendanz dringt der neue Ruhrtriennale-Chef Johan Simons tief in die Industriebrachen des Ruhrgebiets vor. Der niederländische Regisseur eröffnet seine erste Spielzeit am kommenden Freitag (14.8.) in der einstigen Kohlenmischhalle der Zeche Lohberg in Dinslaken mit der Uraufführung «Accattone», einer Musiktheater-Adaption des filmischen Sozialdramas von Pier Paolo Pasolini.
Wenn jemand den Maschinenraum der Kultur liebt, den Ort, wo Geistiges auf Maloche trifft, dann ist das Johan Simons. Der preisgekrönte niederländische Regisseur tourte schon in jungen Jahren mit einem Wandertheater durch leerstehende Fabriken in der holländischen Provinz.
Dass der 68-Jährige profilierte Theatermann für drei Jahre das experimentelle Musik-, Theater- und Kunstfestival Ruhrtriennale leiten wird, erscheint als logische Konsequenz. Für die Intendanz im rauen Ruhrgebiet verließ Simons nach fünf erfolgreichen Jahren die Kammerspiele im feinen München. Vom 14. August bis 26. September läuft die erste Ruhrtriennale unter seiner Intendanz. Drei Jahre, so die Regeln des europaweit beachteten Festivals, bleibt ein Intendant - dann ist wieder Stabwechsel.
Anders als sein Vorgänger, der Komponist Heiner Goebbels, drückt Simons der Ruhrtriennale einen politischen Stempel auf und bemüht stark den Arbeitermythos des Reviers. Für Simons sind soziale Gerechtigkeit, die Kluft zwischen Arm und Reich, Arbeit und Arbeitslosigkeit die Leitthemen.
«Die Kritik, die Reflexion ist meine Aufgabe», sagte Simons im dpa-Interview. Die meisten Menschen bezögen ihre Identität und ihren Selbstwert aus der Arbeit. Er aber frage sich, ob das richtig sei. Die Hoffnungslosigkeit der Menschen ganz unten auf der gesellschaftlichen Leiter ist gleich in Simons' Eröffnungspremiere am 14. August das zentrale Thema.
Er adaptiert Pasolinis berühmtes Sozialdrama «Accatone - Wer nie sein Brot mit Tränen aß» für die Bühne - zu Musik von Bach. Aber was heißt schon Bühne bei Simons? Er verwandelt die 200 Meter lange Mischhalle der ehemaligen Zeche Lohberg in Dinslaken erstmals in ein Theater.
Das ist auch für heutige Ruhrgebietsverhältnisse eine wüste Gegend - anders als die in ihrem rostigen Charme schon chic zu nennenden Aufführungsorte wie die Zeche Zollverein in Essen oder die Jahrhunderthalle Bochum. Simons aber führt die Ruhrtriennale auf entlegenere Pfade. Schon Lohberg dürfte für die meisten Besucher nur mit Navi zu finden sein.
Auch bei der Kunst zieht es ihn dorthin, wo es normalerweise keine Kunst gibt. So ist die spektakuläre begehbare Wasserinstallation «Nomanslanding» im alten Eisenbahnhafen in Duisburg-Ruhrort zu finden. Künstlern vertraute er auch verwaiste Ladenlokale irgendwo im Zentrum Bochums oder in den engen Straßen von Ruhrort an.
Simons hatte schon bei der Übernahme der Ruhrtriennale-Intendanz angekündigt, er suche die Annäherung an die Arbeiter und Arbeitslosen. «Seid umschlungen» heißt das Motto des Festivals, übernommen aus Schillers «Ode an die Freude». Die Preise für Tickets liegen im Vergleich zu renommierten Festspielen in anderen Städten im moderaten Bereich zwischen fünf und 80 Euro.
Dabei weiß auch Simons, dass ein Festival, wo Wagner und Monteverdi - wenn auch mit moderner Musik unterlegt - gespielt werden und die Wälzer der französischen Literaten Zola und Proust auf die Bühne kommen, eher das Bürgertum ansprechen dürfte. «Die Leute, die meistens im Publikum sitzen, sind natürlich bürgerlich, die Bourgeoisie», sagt er der dpa. Aber zumindest dürften sie nach dem Besuch in Lohberg das Stadtviertel besser verstehen.
Einen kleinen Skandal provozierte die erste Ruhrtriennale schon vor Beginn. Auf die Fußböden einiger Bahnhöfe hatte das Festival Plakate mit dem gekreuzigten Jesus kleben lassen, um für «Accatone» zu werben. Dass man auf dem Gottessohn mit den Füßen herumtrampeln konnte, sorgte für Protest. Die Plakate wurden wieder entfernt.
Höhepunkte der Ruhrtriennale
Die erste Ruhrtriennale unter Johan Simons läuft vom 14. August bis 26. September. Hier einige Höhepunkte:
MUSIKTHEATER
- «Accattone»: Johan Simons' Auftaktinszenierung ist eine Adaption des gleichnamigen Unterschichten-Spielfilms des Italieners Pier Paolo Pasolini aus dem Jahr 1961. Begleitet wird das Sozialdrama von Musik von Johann Sebastian Bach. Spektakulär ist der Aufführungsort: die 200 Meter lange Mischhalle der Zeche Lohberg in Dinslaken.
- «Orfeo»: Die Produktion orientiert sich an Claudio Monteverdis Oper, jedoch wird in die Originalpartitur musikalisch eingegriffen. Die Zuschauer begeben sich in der Kokerei Zeche Zollverein in Kleingruppen in die Unterwelt. Regie führt unter anderem Susanne Kennedy, die zum Team des künftigen Chefs der Berliner Volksbühne, Chris Dercon, gehört.
- «Das Rheingold»: Wagner pur darf man bei Regisseur Johan Simons nicht erwarten. Bei ihm wird der Nibelungenschatz zum revolutionären Sozialdrama. Der finnische Techno-Pionier Mika Vainio bricht die Partitur auf. Der eigenwillige griechische Dirigent Teodor Currentzis bringt für sein Wagner-Debüt sein Orchester MusicAeterna aus der russischen Ural-Stadt Perm mit.
SCHAUSPIEL:
- «Liebe.Trilogie meiner Familie I»: Das Schauspiel unter der Regie von Luk Perceval ist der erste Teil einer Trilogie, die einen Bogen über Simons' dreijährige Intendanz spannt. Vorlage ist Émile Zolas 20-bändiger sozialkritischer Romanzyklus «Die Rougon-Macquart».
- «Die Franzosen»: Fünf Stunden dauert die Aufführung des Stücks, eine Adaption von Marcel Prousts gewaltigem Roman «Auf der Suche nach der verlorenen Zeit». Der polnische Regisseur Krzysztof Warlikowski sucht nach den Wurzeln des heutigen europäischen Geistes.
TANZ:
- «Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke»: Die belgische Choreographin Anne Teresa De Keersmaeker nimmt sich Rainer Maria Rilkes berühmte Kriegserzählung «Cornet» vor, die während der beiden Weltkriege eine Art Kultbuch der Soldaten war.
KUNST:
- «Nomanslanding»: Die begehbare Installation ist über zwei auf dem Wasser schwimmende Stege zugänglich. Sie umfasst zwei große Plattformen, die sich auf der Wasserfläche allmählich zu einem Dom in Form einer Halbkugel vereinigen. Im Innenraum ist eine Sound-Collage zu hören. Das Gemeinschaftsprojekt von fünf internationalen Künstlern wird nach Sydney nun in Duisburg-Ruhrort gezeigt.
Ruhrtriennale-Intendant Simons: «Kritik ist meine Aufgabe»
Interview: Andrea Löbbecke, dpa
Frage: Sind Sie schon im Ruhrgebiet heimisch geworden?
Antwort: Das war nicht so schwierig, weil ich aus den Niederlanden komme und in der Nähe von Nimwegen wohne. Außerdem war ich, als ich auf der Schauspielschule war, viel in Bochum, und ich habe unter dem ersten Intendanten der Ruhrtriennale, Gerard Mortier, schon viel gemacht. Dann hat man jedenfalls eine Idee, wie das Ruhrgebiet funktioniert. Nur eine Idee - ganz genau dahinter kommt man auch nicht.
Frage: Sie sind bekennender Fußballfan, und auch im Ruhrgebiet spielt Fußball eine große Rolle. Was ist das Trennende oder auch das Verbindende von Kunst und Fußball?
Antwort: Das Verbindende ist, dass es beides live ist. Das Trennende ist, dass Fußball zwar zur Kultur gehört wie Kunst auch. Aber Kunst hat eine Sonderposition, sie schwebt objektiv über der Kultur und liefert Kommentare zum Zustand der Gesellschaft. Trennend ist natürlich auch, dass Fußball eine körperliche Begeisterung bringt und Kunst mehr eine geistige. Fußball ist sehr direkt und Kunst ist meistens sehr indirekt. Kunst funktioniert mehr über Reflexion und Fußball ist: «Man tut es einfach».
Frage: Zur Eröffnung inszenieren Sie «Accattone», ein Gesellschaftsdrama von Pier Paolo Pasolini, in der Kohlenmischhalle der Zeche Lohberg in Dinslaken. Warum ausgerechnet dieser Ort, der erstmals bei der Ruhrtriennale bespielt wird?
Antwort: Ich finde es wichtig, nicht jedes Jahr in der Jahrhunderthalle in Bochum zu eröffnen. Es ist inzwischen eine Eventhalle mit toller Infrastruktur, aber es ist nicht mehr die raue Umgebung, die ich gewöhnt bin von meiner Truppe Hollandia, wo man jedes Mal an einem anderen Ort spielt. Die Kohlenmischhalle ist für mich noch unangetastet - und das ganze Gelände hat eine Geschichte. Es liegt neben dem Viertel Lohberg, was ich auch sehr interessant finde.
Frage: Warum passt gerade das Eröffnungsstück gut nach Dinslaken?
Antwort: Pasolinis Motiv ist die Wüste. Wenn man seine Filme sieht, dann sieht man oft Figuren, die sich in einer Wüste bewegen. Und man kann zwar viel behaupten, aber die Kohlenmischhalle ist natürlich auch eine Art Wüste. Und in einer Wüste ist der Mensch sehr klein.
Frage: Die Festival-Eröffnung in einer ehemaligen Industriehalle steht ja - allein vom Bild her - im großen Gegensatz zu den schicken roten Teppichen, die zu solchen Anlässen vor anderen Häusern ausgerollt werden...
Antwort: Roter Teppich ist eine andere Welt, das gehört zu den Musicals. Dagegen habe ich auch nichts. Aber es ist nicht mein Job, Musicals zu machen. Unser Job ist es, Leute zum Nachdenken zu bringen, Dinge zu thematisieren, die man vielleicht lieber nicht sehen möchte. Die Kritik, die Reflexion ist meine Aufgabe. Die Orte sind das Besondere an der Ruhrtriennale.
Frage: Sie wollen zum Nachdenken bringen, Kritik üben. Was meinen Sie damit konkret?
Simons: Die Leute, die meistens im Publikum sitzen, sind natürlich bürgerlich, die Bourgeoisie. Aber vielleicht werden sie empfänglich für die Themen, die dort gespielt werden. Und wenn man dann ins Auto steigt und abends nach der Vorstellung nach Hause fährt, dann sieht man das Viertel Dinslaken-Lohberg, und jeder weiß, was das bedeutet...
Antwort: Sie meinen die hohe Arbeitslosigkeit und die vielen sozialen Probleme. In die Schlagzeilen geriet der Stadtteil ja auch durch die «Lohberger Brigade», eine Gruppe islamistischer Kämpfer...
Simons: Arbeitslosigkeit ist im Leben von vielen Leuten ein Riesenthema, und es gibt einen immer größer werdenden Unterschied zwischen Arm und Reich. Die meisten Leute holen ihre Identität und ihren Selbstwert aus der Arbeit. Und da muss man sich fragen: Ist es richtig, dass wir darüber unsere Identität beziehen? Und müssen wir nicht dafür sorgen, dass mehr Leute eine Perspektive haben auf Arbeit? Das ist auch Thema des Eröffnungsstückes. Es gibt Leute, die haben keine Hoffnung auf Verbesserung, das ist das Subproletariat von dem Pasolini spricht. Darin steckt natürlich ein revolutionäres Potenzial. Wir tun nichts mit diesem revolutionären Potenzial - aber Extremisten füllen diese Lücke und sorgen dafür, dass Leute motiviert werden für Ideale, bei denen wir denken - nein danke, lieber nicht. Man kann natürlich auch ein Festival veranstalten, bei dem nur die Sonne scheint. Aber ich bin ein politischer Mensch, also muss ich mich damit beschäftigen.
Trotzdem hoffe ich tatsächlich darauf, dass draußen die Sonne scheint (lacht). Die braucht man, um die Stätten zu bespielen. Aber drinnen muss auch mal etwas anderes behauptet werden. So gut geht es uns als Gesellschaft nicht.
Frage: Erst vor kurzem haben Sie endgültig Abschied genommen von München und zu der Gelegenheit gesagt, Sie vermissten das bayerische Frühstück. Haben Sie schon Ersatz gefunden?
Antwort: Das bayerische Essen ist unnachahmlich. Ich bin hier noch auf der Suche nach einem guten und gesunden Frühstück. Etwa bayerisches Birchermüesli mit frischen Früchten. Die Bayern können das.
ZUR PERSON: Bei der Ruhrtriennale löst der niederländische Theatermann Johan Simons den Musiker und Komponisten Heiner Goebbels ab. Seit 2010/11 war Simons Intendant der Münchner Kammerspiele, zuvor leitete er das Nationaltheater im belgischen Gent.