Wir sollten inzwischen eigentlich alle die Nase voll haben von Usurpatoren, Putschisten, Diktatoren, Warlords, Oligarchen, Kirchenoberen, Muftis, Machos, Mackern und sonstigen Möchtegerns. Doch die Sehnsucht nach dem starken Mann oder fallweise auch der starken Frau an der Spitze von Nation, Militär, Wirtschaft, Finanzen, Sport und Kultur ist vielerorts lauter denn je, horcht man auf China, Russland, Nordkorea, Ungarn, Türkei oder die USA. Und auch hierzulande gibt es manche scharfe Töne, die man gestern noch für vorgestrig gehalten hätte. Ganz anders agieren dagegen immer mehr Kunst- und Musikschaffende. Statt monomaner Machtfantasien und Egotrips verfolgen sie kolaborative, kokreative und partizipative Prozesse. Wie einst Dadaisten, Fluxisten und Situationisten bezweifeln sie die drei heiligen Kühe der europäischen Kunstmusik: Genie-, Werk- und Kunstbegriff. Und während selbst fast alle Theater, Orchester, Festivals, Opern- und Konzerthäuser noch auf hierarchisch-autoritären Intendanzen basieren, findet die Revolution beziehungsweise Transformation offenbar wieder einmal nur in der Musik statt. Doch was heißt „nur“? Immerhin findet sie in der Musik statt!

Uraufführungen in der nmz. 2023/10
Wind of Change?
Der schon länger zu beobachtende Trend erreicht jetzt auch die Donaueschinger Musiktage. Vom 19. bis 22. Oktober legt die neue Leiterin Lydia Rilling den Fokus auf „distributed creativity“. Die Komponistin+Schriftstellerin-Tandems von Iris ter Schiphorst mit Felicitas Hoppe und Elnaz Seyedi mit Anja Kampmann liefern neue Stücke für Stimme und Ensemble Ascolta. Matana Roberts, Clara Iannotta, Éliane Radigue und Carol Robinson verlangen mitgestaltende Solisten und Orchester. Das Trio Yarn/Wire entwickelt mit den Improvisationskünstlern Tyshawn Sorey, Ingrid Laubrock und Peter Evans ein gemeinsames Vokabular. Wojtek Blecharz lässt fünf Performer zwischen 220 Lautsprechern die Gattung Symphonie neu interpretieren. Klanginstallationen stammen von Marina Rosenfeld, Ryoko Akama, Raul Keller sowie vom Duo Rie Nakajima und Pierre Berthet. Und auch bei den Uraufführungen von Joanna Bailie, Jessie Marino, Olga Neuwirth, Giulia Lorusso, Bakudi Scream, Younghi Pagh-Paan, Francesca Verunelli und Steven Kazuo Takasugi wird sich zeigen, ob einzelne Subjekte gemeinsam intelligente Schwärme bilden oder bloß individuelle Verantwortung ans Kollektiv delegieren.
Die frische Brise aus Südwest verstärkt vom 12. bis 15. Oktober das von der Stadt Karlsruhe und dortigen Hochschule für Musik zum zehnten Mal veranstaltete Festival ZeitGenuss. Das Programm kuratierte diesmal das ALEPH Gitarrenquartett, das mit dem Eröffnungskonzert sein dreißigjähriges Bestehen feiert und dabei ebenso viele Miniaturen von Komponistinnen und Komponisten uraufführt, mit denen man schon früher zusammengearbeitet hat: Birke Bertelsmeier, Ludger Brümmer, Huihui Cheng, Irene Galindo Quero, Zeynep Gedizlioğlu, Malte Giesen, Sara Glojnarić, Markus Hechtle, Manuel Hidalgo, Nikolaus A. Huber, Jens Joneleit, Jörg Mainka, Martin Smolka, Mathias Spahlinger, Lisa Streich und nochmals so viele andere. Weitere Uraufführungen stammen von Jaime Reis, Jonas Eckenfels, Helmut Oehring, Malte Giesen, Klara Mlakar und Veronika Reutz Drobnić.
Weitere Uraufführungen:
- 2.10.: Aaron Cassidy, Joseph Andrew Lake, Evan Johnson, neue Stücke für Ensemble Musikfabrik, Studio Musikfabrik Köln
- 5.–7.10.: Live-Hörspiel Oh Endless Is This Time zum Weltkongress gegen Imperialismus und Kolonialismus von 1929 in Frankfurt/Main, Mousonturm
- 7.10.: Camille van Lunen, Danses für Stimme und Vibraphon, Tübinger Musikfest, Pfleghof
- 13.10.: Vito Žuraj, Automatones für BR-Sinfonieorchester, musica viva, Isarphilharmonie München
- 14.10.: Sean Quinn, Stephan Winkler, Anothai Nitibhon, neue Stücke für Studio Musikfabrik, Alte Feuerwache Köln
- 15.–28.10.: Friedrich Jaecker, Chengwen Chen, Philipp Maintz, Carlos Lopes, Izumi Maekawa, Josef Schultewolter, Adrian Laugsch, Ahmetcan Gökçeer, Andrés Quezada, neue Werke, Orgelmixturen Kunst-Station Sankt Peter Köln
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