Nicht weniger als eine Bilanz des 20. Jahrhunderts hatte sich das diesjährige Musikfest Berlin zum Ziel gesetzt. Festivalleiter Winrich Hopp ließ sich zu seinem anspruchsvollen Konzept durch den Sozialhistoriker Eric Hobsbawm anregen, der dieses Centennium als ein Zeitalter der Extreme charakterisierte, als eine Epoche der Konflikte, Kriege und Katastrophen. Auch die Tonkunst, die viele Musikfreunde als eine separate Gegenwelt sehen wollen, blieb davon nicht unberührt.
Dies zeigte sich exemplarisch schon am ersten Abend, als in der abgedunkelten, fast wie ein Raumschiff wirkenden Philharmonie Karlheinz Stockhausens „Hymnen“ erklangen. Man hörte zwei Stunden lang aus Lautsprechern (Klangregie: Simon Stockhausen) diese elektronische und konkrete Musik, mit der der visionäre Komponist 1966, noch vor der ersten Mondlandung, einen geistigen Raumflug antrat und den Erdball als große Völkergemeinschaft deutete. Zwei Hymnen stachen dabei heraus: die „Internationale“ und das „Deutschlandlied“, das Stockhausen in Erinnerung an dunkle Zeiten mit dem Horst-Wessel-Lied verband.
Das Dritte Reich, das dem 20. Jahrhundert seinen Stempel aufdrückte, hat auch das „Deutschlandlied“ infiziert und beschädigt. Wohl deshalb spielte das Pellegrini-Quartett die berühmte Haydn-Melodie im Variationensatz des Kaiser-Quartetts so zurückhaltend und diskret, während es die Gegenstimmen hervorkehrte. Ebenfalls mit eigenartigen Gegenstimmen (darunter das Lied „Schlaf, Kindchen, schlaf“) und fragmentarisch versteckt, hörte man Haydns Melodie in Helmut Lachenmanns „Tanzsuite mit Deutschlandlied“. Hans Zender, dem das Werk gewidmet wurde, interpretierte es mit dem SWR-Orchester als „fast frivoles, tragisch endendes Spiel“. Zum Nachdenken über Deutschland brachte schließlich die „Deutsche Symphonie“ von Hanns Eisler, aufgeführt durch das Deutsche Symphonie-Orchester (DSO) unter Ingo Metzmacher, der sich bereits mehrfach für dieses Werk eingesetzt hat. Im Einleitungssatz „O Deutschland, bleiche Mutter“ bildet die „Internationale“ den Gegenpol zum Hitler-Reich, hoffte Eisler doch damals noch auf den antifaschistischen Widerstand der Arbeiter, der „wahren Führer Deutschlands“.
Aus der Opposition gegen den NS-Begriff der Volksgemeinschaft versteht sich das Insistieren auf dem Gegensatz der Klassen in den hier vertonten Brecht-Texten. Der neunte Satz, „Das Lied vom Klassenfeind“, ist eine nachdenklich stimmende deutsche Chronik von der Kaiserzeit bis Hitler. Dem fabelhaft deutlich deklamierenden Rundfunkchor Berlin standen die Gesangssolisten nicht nach. Matthias Goerne, der sonst meist auf Tonschönheit beharrt, wechselte bei der Erwähnung der Kriegsvorbereitungen („Da hörte ich die Trommel rühren“) in einen schärferen Ton.
In einem letzten, erst 1947 geschriebenen Instrumentalsatz beklagte Eisler, dass „das andere Deutschland“ Hitler nicht hatte besiegen können. Auch die französische Résistance konnte die deutschen Besatzer nicht aus dem Land jagen. Dennoch berührt die zwölfstimmige Kantate „Figure Humaine“ von Francis Poulenc, ein musikalisches Dokument der Résistance nach Texten von Paul Éluard, zumal wenn sie so sauber intoniert wird wie hier vom Lettischen Rundfunkchor. Der Schlusschor, eine Hymne auf die Freiheit, steigerte sich fulminant zu einem weitgefächerten E-Dur-Akkord.
Memorial mit Schellenbaum
Im Mittelpunkt des Musikfests standen zwei Komponisten, welche die Konflikte des 20. Jahrhunderts besonders sensibel reflektierten: Dmitri Schostakowitsch und Iannis Xenakis. Beide hatten sich für den Sozialismus engagiert, dies allerdings unterschiedlich in ihrer Musik reflektiert. Überraschend wurde auch Joseph Haydn in diesen Kontext einbezogen, da er ebenfalls auf gesellschaftlich-politische Umbrüche reagierte; die Kaiser-Hymne ist nicht der einzige Beleg. Ist aber sein Oratorium „Die Jahreszeiten“, welches die Berliner Philharmoniker unter Simon Rattle zur Aufführung brachten, wirklich so subversiv, wie es im Programmheft zu lesen war?
Plausibler wirkte es schon, den zweiten Satz seiner Militär-Symphonie Nr. 100 als verstecktes Memorial für die in der französischen Revolution enthauptete Königin Marie Antoinette zu deuten. Mariss Jansons durchkreuzte allerdings diese Deutung, indem er zum Schluss Mitglieder seines Concertgebouw Orkest wie witzige Zinnsoldaten einschließlich Schellenbaum in den Saal einmarschieren ließ.
Geschichte hörbar gemacht
Iannis Xenakis hat man die Wunden dieses Jahrhunderts schon äußerlich angesehen. Im Widerstand gegen die italienische und deutsche Besetzung seiner griechischen Heimat hatte er sich der kommunistischen Widerstandsbewegung angeschlossen. Ausgerechnet die britischen Truppen, die das Land Ende 1944 von den Deutschen befreiten, wurden zu seinem Verhängnis, denn sie bekämpften auch den kommunistischen Widerstand; so wurde Xenakis von einer britischen Granate getroffen, die seine linke Gesichtshälfte zerriss. Seine Musik zeigt die Spuren der Gewalt nicht immer so deutlich wie sein Gesicht.
Das Orchesterwerk „Jonchaies“ (1977) ist eher eine Studie über Formarchitektur und bezieht sich auf die Anordnung von Binsen im Dickicht. Eine messerscharfe dünne Streicherlinie verdichtet sich allmählich, dann wird eine maschinenhafte, von der großen Trommel grundierte Bewegung durch irreguläre Schläge aus dem Takt gebracht und das Orchester schiebt sich als gigantischer Koloss allmählich nach oben. Metzmacher und dem DSO verdankte sich diese faszinierende Hörexpedition. Auf lebhafte Resonanz stieß auch die Komposition „Nomos Gamma“ (1967–1968), eine Raummusik, bei der David Robertson das in der ganzen Philharmonie verteilte BBC Symphony Orchestra sicher koordinierte.
Zu den wenigen Werken, in denen Xenakis seine Gewalterfahrungen direkter aufgriff, gehört „Aïs“ (1980). Texte aus der „Odyssee“ und der „Ilias“, die sich dem Hades und der Unwiderruflichkeit des Todes widmen, sang der Bariton Leigh Melrose in tiefem Rezitationston, während er dazwischen mit hoher Stimme grelle Vogelschreie ausstieß. Nicht weniger grandios wirkte in dieser beklemmenden Aufführung des BBC-Orchesters der Schlagzeuger Colin Currie.
Schließlich war mit dem Konzerthausorchester unter Lothar Zagrosek „Nekuia“ für gemischten Chor und Orchester (1981) zu erleben, eine Begräbnisszene, mit der der Komponist die Krise der Ideologien reflektierte. Wenn in der tumulthaften Musik gewaltige Klangmassen aufeinanderprallten, wirkten schockhafte Erlebnisse des Komponisten nach, etwa Explosionen auf Schlachtfeldern. Diese sehr zustimmend aufgenommenen Aufführungen öffneten die Ohren für die geschichtlichen Dimensionen, die gerade die Musik von Xenakis prägten.
Symphonisch politisch
Dass Dmitri Schostakowitsch ein politischer Mensch war, wurde nie bezweifelt. Seine „Leningrader Symphonie“, welche die Belagerung Leningrads durch deutsche Truppen thematisiert, hat selbst Geschichte gemacht. Allerdings gab es wohl selten die Gelegenheit, so viele Schostakowitsch-Symphonien nacheinander von Spitzenorchestern zu hören und auf ihren künstlerischen wie zeitgeschichtlichen Gehalt überprüfen zu können. Die Symphonie Nr. 1, welche die Junge Deutsche Philharmonie unter Susanna Mälkki zum Festivalende interpretierte, war noch vom Enthusiasmus eines jungen Komponisten geprägt, der am Ende seines Studiums die ganze Palette seiner Möglichkeiten vorführte.
Bereits in schweres Wasser war Schostakowitsch geraten, als er 1935 seine Symphonie Nr. 4 in Angriff nahm, ein umfangreiches und schwieriges Bekenntniswerk. Simon Rattle arbeitete hier die Extreme und in den bedrohlichen Marschcharakteren der gigantischen Ecksätze die Mahler-Nähe heraus. Dem entsprach der Kontrast der Haltungen, wenn etwa im Finale das energisch kämpferische Vorwärtsdrängen plötzlich in einen Walzer einmündete. Auch dank des bedingungslosen Einsatzes der Philharmoniker wurde es eine grandios packende Interpretation.
Verschlüsselte Botschaften
Während Schostakowitsch seine Vierte selbst zurückzog (sie wurde erst 1961 uraufgeführt), hat er mit seiner Fünften seinen Kritikern selbstbewusst geantwortet. Was nach außen hin wie eine Rückkehr zu einer optimistischen Lebenseinstellung wirkte, enthielt in Wahrheit verschlüsselte Botschaften. Diesen wandten sich Jonathan Nott und die Bamberger Symphoniker zu, indem sie das Scherzo ausgesprochen brutal und hart spielten und das Dur-Finale als lärmenden Triumph. Gebrochene und mehrdeutige Charaktere finden sich auch in der 1939 entstandenen sechsten Symphonie in der Grundtonart h-Moll.
Mit voller Wucht und hörbaren Seufzern warf sich Andris Nelsons in das Leidenspathos des Largos, dem statt einer Lösung in den beiden weiteren Sätzen Zirkus- und Clownszenen folgten; es spielte das City of Birmingham Orchestra. Musiker aus dem benachbarten London boten die Siebte, die „Leningrader“ (das London Philharmonic Orchestra mit einer fantastischen Trommlerin unter Kurt Masur), die Achte (Philharmonia unter Vladimir Ashkenazy) und die Neunte (das BBC-Orchester hier nicht mit allerletzter Klangkultur). Stark beeindruckte die Darstellung der als Requiem auf Stalin geltenden Zehnten durch das wunderbar homogene Concertgebouworkest unter Mariss Jansons; dieser schweren und gewaltsamen Musik war als Fanal des Widerstands immer wieder das Namenssignet des Komponisten eingeschrieben.
Als plakative Problemstücke gelten die Symphonien Nr. 11 (Das Jahr 1905) und Nr. 12 (Das Jahr 1917). In seiner Elften, komponiert 1957 zum 40. Jahrestag der Oktoberrevolution, wich der Komponist vom Thema ab, indem er sich der gescheiterten Revolution von 1905 widmete. Aber Valery Gergiev und das London Symphony Orchestra gewannen für das Werk, das mit bleiernen Halteklängen begann und trotz eines finster entschlossenen Finales, straff im Rhythmus, mit hoher Präzision gespielt, schließlich wieder in der bleiernen Starre des Anfangs versank. In seiner Zwölften, die er Lenin widmete, hat Schostakowitsch das Versäumte nachgeholt.
Es ist eine Symphonie ohne doppelten Boden, ein Heldenlied, das die Berliner Philharmoniker wohl deshalb noch nie gespielt haben. Auch für den jungen Gustavo Dudamel dürfte das Werk neu gewesen sein. Aber mit hoher Kompetenz auswendig dirigierend bot er eine Ehrenrettung dieses umstrittenen Werks, dessen thematische Geschlossenheit überzeugte; nur am Schluss kippte die Überdehnung der Apotheose ins Unglaubwürdige um.
Eine merkwürdig doppelbödige Altersweisheit und -heiterkeit war in der zitatenreichen Symphonie Nr. 15 zu erleben, die das Chicago Symphony Orchestra unter Bernard Haitink nach einem großen Trauermarsch in ein surreales, fast spielerisches A-Dur einmünden ließ.
Bei insgesamt 24 Konzerten konnte man in Philharmonie und Konzerthaus auch die unterschiedliche Qualität, Spielweise und Zusammensetzung der Orchester beobachten – im Vergleich zu deutschen Orchestern fiel beispielsweise bei den Klangkörpern aus Chicago und Birmingham der geringe Frauenanteil auf. Stehende Ovationen gab es bei Jansons, Masur, Haitink und Gergiev, nicht dagegen bei den Hoffnungsträgern Nelsons und Dudamel, was auch an den Problemwerken gelegen haben mag, die ihnen zugefallen waren.
Fortschritt und Zerstörung
Raumfahrt und Atombombe – da diese Polarität von Fortschritt und Zerstörung das 20. Jahrhundert prägte, gab es zum Schluss eine Hommage an die verdienstvolle Ärzteorganisation IPPNW, die seit 25 Jahren in eigenen Konzerten auf die atomare Gefahr hinweist. Die Liste der Künstler, die dabei mitwirkten, liest sich wie ein Who is Who des Musiklebens. Bei zwei Benefizkonzerten der IPPNW, gestaltet vom Pellegrini-Quartett sowie von Viviane Hagner, Alban Gerhardt und Steven Osborn, bildete die Wiedergabe von Schostakowitschs Cello-Sonate op. 40 einen umjubelten Höhepunkt.
Passend dazu folgten am gleichen Abend die „Canti di vita e d’amore: Sul Ponte di Hiroshima“ von Luigi Nono mit den Bamberger Symphonikern, Marisol Montalvo (Sopran) und Niclas Oettermann (Tenor). Dem warnenden Blick auf die Leichen der Atomtoten von Hiroshima schlossen sich dabei zwei hoffnungsvolle Liebesgesänge an – ein Kontrast, der kennzeichnend ist für dieses Zeitalter der Extreme.