Die „Tage für neue Kammermusik“ in der Ruhrstadt Witten zählen zu dem halben Dutzend Stätten, an denen die Entwicklungen in der sogenannten „Neuen Musik“ am eindringlichsten zu erfahren sind. Und nicht nur das: Junge Komponisten erhalten hier die Chance, ihre frisch komponierten Werke vorzustellen, diese im Kontext mit den Stücken der Kollegen zu vergleichen, aktuelle Tendenzen des Komponierens kennenzulernen. Wittens Kammermusiktage sind auch ein großes Labor für die Musik, eine Art Forschungsprojekt, vergleichbar Instituten in Physik, Chemie oder Medizin. Niemand käme auf die Idee, Medizinern, die eine ernsthafte Krankheit erforschen um Gegenmittel zu finden, das Geld zu kürzen oder gar zu streichen, nur weil die Ergebnisse auf sich warten lassen. Mit den Künsten in all ihren Disziplinen ist es genauso. Wer nur Mozart, Verdi und Wagner in Kopf und Ohr hat, ist irgendwie aus unserer Zeit gefallen. Ein Komponist, der wie die Genannten und noch viele andere mehr heute noch deren Musik fortschreibt, gerät unweigerlich in den Geruch des Eklektikers, nur dass seine Werke dem Vergleich mit den Vorbildern kaum standhalten. Also:„Kinder, schafft Neues“, wie schon Richard Wagner sagte.
In Witten wird Jahr für Jahr „Neues“ vorgestellt. Unverständlich daher, dass im vergangenen Jahr die Tage ernsthaft gefährdet erschienen, weil die hochverschuldete Stadt Witten, wie viele andere Gemeinden im Ruhrgebiet, mit einer Haushaltssperre durch die Finanzaufsicht belegt wurde. Der Mitveranstalter Westdeutscher Rundfunk sprang rettend ein, im Vorgriff auf den eigenen Etatanteil, was natürlich keine dauerhafte Lösung sein kann, weil das Geld dann für das laufende Neue-Musik-Programm im Sender selbst fehlen würde. Was vielleicht sinnvoll und konstruktiv wäre: eine andere Trägerstruktur in Form einer öffentlich-rechtlichen Stiftung, an der sich das Land Nordrhein-Westfalen, die Stadt Witten und natürlich der Westdeutsche Rundfunk sowie eventuell weitere Interessierte und Förderer beteiligen könnten. Großes Kapital wäre nicht erforderlich, nur der zuverlässige Beitrag zum Etat des jährlichen Festivals. Das könnte, auch für die verantwortlichen Veranstalter, so etwas wie Planungssicherheit garantieren.
Unabhängig davon bemühen sich die Avantgarde-Festivals mit steigender Tendenz um ein neues, vor allem jugendliches Publikum. Auch die Anbindung an die Bevölkerung des jeweiligen Ortes wird wichtig, sogar für die regionale Politik, die gern auf die Akzeptanz einer „Sache“ blickt, um erwünschte Zuschüsse zu gewähren. Die Zeiten, in denen sich Musikkritiker strenger Observanz gestört fühlten, wenn nur ein Dutzend fachferner, gleichwohl äußerst interessierter Zuhörer mit im Konzertsaal saßen, sind sicher vorbei.
Andererseits, und das ist natürlich das Gegenteil, fragt man sich, ob es sinnvoll ist, gleich Hundertschaften junger Musikstudierender in die Konzerte in Donaueschingen, in Witten, einzuschleusen. Auch in Witten hat man dazu schon Erfahrungen gesammelt – siehe unten. Die diesjährigen Kammermusiktage offenbarten zu allem aufschlussreiche Einsichten. Die Neue Musik drängt an die frische Luft, auf die Plätze und Straßen einer Stadt, in Parklandschaften, an Flussufer, auf Aussichtsfelsen und Seen. Was sie dort sucht? Natürlich das neue Publikum, junges vor allem. Jüngere Menschen überfällt oft Schwellenangst, wenn sie an die hehren Kunsttempel denken, in denen vorwiegend ältere Musikfreunde nach strengen Ritualen der Hochkultur frönen. Neue Musik sucht also nicht zuletzt um der eigenen Zukunft Willen ein neues Publikum, notfalls eben auf der Straße.
Auch in Witten haben die beschriebenen Tendenzen schon vor Jahren Einzug gehalten. Man wandert mit der Musik hinaus auf eine hohe Burg, von der aus Klänge ins Flusstal gestrahlt werden; man fährt auf einem Dampfer gemächlich auf der Ruhr zum nahen See und schaut auf Attraktionen an beiden Ufern, die sich der Komponist und Aktionskünstler Manos Tsangaris ausgedacht hat, zu denen dann auf Schiff und an Ufern farbige, feine, auch gröbere Klangerfindungen treten bis hin zum durchdringenden Schrei der Dampfersirene, die mit vier Hornisten an Bord wetteifert. Das alles wirkte phantasievoll, idyllisch, poetisch, ja, fast romantisch. Ist es auch ein Kunstwerk?
Darüber dürfen die Meinungen auseinandergehen. Und ob dadurch wirklich junge Leute gelockt werden, am Abend den Komplexitäten eines Brian Ferneyhough zu lauschen? Diese und ähnliche Fragen wurden in Witten auf einem Symposion diskutiert. Welche Funktion hat die zur Mode gewordene „Kunstvermittlung“ inzwischen übernommen?
Ein Beispiel erschien besonders anschaulich: Ein Musikprofessor hatte vor zwei Jahren seine Studenten mit nach Witten genommen. Die oben skizzierten Aktionen im Freien an der Ruhr gefielen diesen gut, aber abends im Konzert herrschte wachsende „Verstörung“ ob der ungewohnten Musik. Eine Studentin sei sogar in Tränen ausgebrochen. Sarkastisch könnte man dazu feststellen: Das kommt davon, wenn man die Entwicklungsgeschichte der abendländischen Musik nicht kennt! Das allerdings ist ein anderes Problem, das nichts mit den Wittener Kammermusiktagen zu tun hat.
Harry Vogt, künstlerischer Leiter der Kammermusiktage, ließ sich durch die Diskussionen nicht verunsichern. Er lud Georges Aperghis, Manos Tsangaris, Erwin Stache, Matthias Kaul und Neele Hülcker ein, mit Außer-Haus-Aktionen die Wittener Innenstadt zu verunsichern, pardon: zu beleben. Tsangaris wechselte von der Ruhr in eine Fußgängerstraße, vom Dampfer in eine Straßenbahn. Kaul kramte aus einem Lieferwagen Haushaltsgegenstände hervor, die er zum Erklingen brachte – auch Gegenstände, die ihm von Passanten gereicht wurden. Er hat in Witten auch schon Bratwürste zum Klingen gebracht. Von „Kunst“ konnte man eher bei den „Retrouvailles“ von Aperghis sprechen: Zwei Schlagzeuger spielen zwei Männer, die einander auf der Straße vor einem Lokal wiederbegegnen, sich umarmen, auf die Schulter klopfen, schwatzen, aufeinander anstoßen. Das ist fabelhaft pantomimisch gestaltet, rhythmisch und gestisch perfekt organisiert, anschaulich – Aperghis zaubert aus einer Nichtigkeit ein theatralisches Kabinettstück hervor.
Das Wesentliche in Witten aber findet nach wie vor im Saal statt: Kammermusik in vielfältigsten Formen und Formaten, zwei Dutzend Ur- und Erstaufführungen, die von den grenzenlosen Möglichkeiten heutigen Komponierens zeugen. Nicht alles ist gelungen, aber jeder Komponist hat das Recht, zu Gehör zu kommen --- dafür sind solche Festivals da! Nur das Eindruckvollste: die Begegnung mit dem Composer-in-Residence, dem 1962 geborenen Schweizer Dieter Ammann, der sich auch als Trompeter, Pianist und Improvisator präsentierte. Sein „Piece for Cello – Imagination against numbers“, sein „Cute“ für Flöte und Klarinette, das zweite Streichquartett und die in Witten uraufgeführte „unbalanced instability“ für Solovioline und Orchester präsentierten einen Komponisten, der mit Gelassenheit und klarem Vorausblick seine Werke organisiert. Präzis ausgehörte Klanglichkeit, Plastizität des Ausdrucks, assoziative Korrespondenzen – alles fügt sich zu energievollem Musizieren. Carolin Widmann und das WDR Sinfonieorchester unter Emilio Pomàrico garantierten für eine adäquate Wiedergabe.
Ähnlich spannend die Ausarbeitungen zu Karlheinz Stockhausens „Plus Minus“ von 1963 durch einige Komponisten, am überzeugendsten die des in New York geborenen Ming Tsao, der die kompositorische Vorlage, eine Art Unterweisung Stockhausens für das Komponieren, souverän und eigenständig in eine eindrucksvolle, klangmächtige Musik überführte. „Rajzok III“ von Márton Illés für Klarinette, Cello und Klavier wurde vom Trio Catch so fabelhaft gespielt, dass die Klangsubstanz des Werkes eindrucksvoll hervortrat. Kompliziert dagegen Misato Mochizukis „outrenoir“ für drei Orchestergruppen (das Nieuw Ensemble unter Celso Antunes). Der französische Maler Pierre Soulages prägte einmal den Begriff „jenseitiges Schwarz“, ein „reflektiertes Licht jenseits des Schwarz, das sich in Schwarz verwandelt“. Entsprechend schwierig hörte sich Mochizukis Pianissimo-Komposition an.
Weiter erwähnenswert: Alberto Posadas Zyklus „Sombras“ in fünf Teilen für Streichquartett, Sopran und Klarinette (Bass-Klarinette). Starke Klangverdichtungen überzeugten ebenso wie die intensive Interpretation durch das Quatuor Diotima, die Sopranistin Sarah Sun und den Klarinettisten Carl Rosman. Erfreulich auch, dass sich das Rundfunksinfonieorchester des Westdeutschen Rundfunks (WDR) wieder für Witten engagierte und in Sinfonietta-Stärke (rund vierzig Musiker) zu den Kammermusiktagen mit einem interessanten Programm anreiste.
Als deutsche Erstaufführung hörte man Niccolò Castiglionis „Quickly“-Variationen für 23 Instrumente – schön, wieder einmal etwas von diesem inspirierten, leider schon 1996 verstorbenen italischen Komponisten zu erleben. Eine Musik voller Geist, auch Keckheit und besonders klanglicher Phantasie. Vykintas Baltakas’ „saxordionphonics“ für Saxophon, Akkordeon und Kammerorchester überzeugte durch einen klaren, gut angeordneten formalen Aufbau. Dieter Ammanns „unbalanced instability“ wurde oben schon erwähnt.
Unter der souveränen Leitung von Emilio Pomàrico demonstrierten die WDR-Sinfoniker einmal mehr ihre Kompetenz für die Neue Musik – wenn sie denn wollen. Unsere Rundfunkorchester wären gut beraten, wenn sie ihrer inzwischen schon „historischen“ Aufgabe, nämlich der Modernen Musik die unabdingbare interpretatorische Qualität zu sichern, möglichst intensiv nachkommen würden. Das ist leider nicht immer und überall der Fall. Die Ruckzuck-Entscheidung bei den beiden Orchestern des SWR, die, wie mehrfach berichtet, fusioniert werden sollen, muss allen zu denken geben.
Insgesamt präsentierte sich das Wittener Kammermusikfestival so lebendig und anregend wie immer, selbst in den Stücken, die eher von den Schwierigkeiten aktuellen Komponierens kündeten. Wie findet ein junger Komponist zu einer eigenen Sprache? Und: Was möchte er ausdrücken, auch wenn es ihm noch an den dafür notwendigen Imaginationen fehlt? Auch für solche Experimente sind Festivals wie Witten oder Donaueschingen notwendig: als Lernhilfen, die vielleicht weiterführen.