Zwei Katastrophen: Anfang des Jahres, als Amerikas Bush-Krieger in zunehmend hysterischer Kreuzzugsstimmung am liebsten nicht nur Bagdad, sondern gleich auch noch Berlin und Bordeaux bombardiert hätten, ging sehr, sehr verspätet ein Gerücht selbst durch die seriösere Ostküsten-Presse der USA; dass man nämlich Frankreichs Pop, anders als seinen Wein und seinen Käse, nicht einmal zu boykottieren brauche, weil er nämlich nach Weltmarkt-Maßstäben ohnehin nicht konkurrenzfähig sei. Das war freilich so anachronistisch, so in jeder Hinsicht démodé, dass man sich Sorgen nicht nur hinsichtlich der Weltmacht-Nummer-Eins-Stromversorgung, sondern auch über die Update-Qualität der „free press“-Archive machen musste.
Ernster war da schon der Zwischenfall, der sich im neu-europäischen Vilnius zutrug und rasch von der privaten Tragödie zum nationalen Drama avancierte: Bertrand Cantat, nicht nur Frontmann der Blockbuster-Band „Désir Noir“, sondern so eine Art Nongovernment-Gewissen der antiglobal engagierten und menschenrechtsbewussten Jugend hatte im nächtlichen Eifersuchts-Streit die Kino-Ikone Marie Trintignant erschlagen. Das war, vor allen Fakten, eine „Tragödie“, die sogar Staatschef Chirac zur Stellungnahme veranlasste.
Was das beweist? French Pop ist präsent; nicht nur, wie seit alters her, in den Herzen der „Leute“, sondern auch in Regierungskanzleien und internationalen Propagandaschlachten. Das Staatsbegräbnis für den letzten und größten Roots-Chansonnier Charles Trenet war kein Einzelfall.
Überhaupt hat sich die französische Pop-Szene nach jahrzehntelangem Dornröschenschlag, wie es so schön heißt, „revitalisiert“. Das begann in den 90ern mit den futuristischen Elektro-Punkern von „Daft Punk“ und ihren smooth-coolen Kollegen von „Air“, die vor einem Jahrzehnt plötzlich Tanzboden und Diskurs beherrschten, führte dazu, dass die äußerst instinktsichere und geschäftstüchtige Madonna sich von Mirwais das Sound-Kostüm für ihre letzten Alben schneidern ließ und endete schließlich damit, dass Paris zu einer Art Hauptstadt der Weltmusik, einer chimärischen und vermischungsbereiten Trikont-Folklore wurde.
Noch überraschender aber ist vielleicht die Renaissance des Chansons, die mittlerweile auch hierzulande für Aufregung sorgt.
Vielleicht war wie so oft das Kino schuld. Schon das „alte“ Chanson war ja durch den frühen Tonfilmklassiker „Unter den Dächern von Paris“ promoted worden. Später wurde es durch singende Schauspieler popularisiert, von Montand und Brialy bis zu Bardot und Moreau; auch Edith Piaf war ja zumindest ein Parttime-Zelluloid-Spatz. In jüngster Zeit kam es dann zu Neuauflagen von Chanson-„Musicals“ im Cinemascope-Format, von Alain Resnais bis zu Ozons Überraschungserfolg „8 Frauen“. Und selbst „Die wunderbare Welt der Amélie“, einer der verblüffendsten Kinoerfolge der letzten Jahre, lebte nicht zuletzt von Yann Tiersens poetisch-neoklassischem Soundtrack.
Das Chanson ist immer beides: Phänomenologie des Alltags und Traum und, wenn man beides zusammen nimmt, eine Kartographie des urbanen Lebens und der Seele.
Wer sich in „Die fabelhafte Welt des Chansons“ (Titel und Cover erinnern natürlich an den „Amélie“-Hype) einführen lassen möchte, für den kommt Teil zwei des Universal-Samplers gerade recht: Ein klares Konzept leitet diese Zeitreise nicht, das hat den Vorteil, dass man viele der „Großen“ mit eher Abseitigerem zu hören bekommt. Die schwarze Muse des Existenzialismus, Juliette Gréco, für die einst sogar Sartre schrieb, mit dem überraschend legeren und lebendigen „La rodeuse“, „très sixties“ gewissermaßen. In die 60er-Jahre gehört auch Serge Gainsbourg, vielleicht der Vater der Neo-Chanson-Bewegung, der ein wenig zynisch, vor allem aber sehr sexy und souverän die schwierigen Beziehungen zwischen Männern und Frauen kommentierte. „L’anamour“ (die „Unliebe“), das war Diagnose im Geschlechterkampf, auf famose Weise zugleich ernst und augenzwinkernd. Mit „Je t’aime“ hatte er ein Jahr darauf einen Mega-Erfolg, worldwide, und war längst dauerhaft ins kollektive Unbewusste abgesunken. Seine Duett-Partnerin Jane Birkin ist auf diesem Sampler mit dem durchaus selbst-ironischen „Ex-Fan des Sixties“ vertreten, das mit den Toten des „Live fast, die young“-Zeitalters halb auch die eigene Lebensform beerdigt. In diesem Sommer tourte sie mit dem großen Gainsbourg-Songbook, dem sie aber, wie man sich bei einem Konzert in München überzeugen konnte, ein verblüffendes nordafrikanisches Kostüm verpasste.
Das Chanson ist wandlungsfähig. Wie sehr, das zeigt vielleicht am besten ein Doppel-Album von Patrick Bruel, das vor allem aus genialen Cover-Versionen besteht und sehr empfehlenswert ist. Bruels Held ist dabei eindeutig Trenet. Aber Bruels Trenet verblüfft: durch Reduktion, durch überraschende Instrumentierung, durch den Mut zur Dissonanz und, was dann am meisten verblüfft, durch das Eingängige, das sofort und auf Dauer Plausible seiner Versionen. „Ménilmontant“, dieses mythische Pariser Quartier, wo Trenet einst sein Herz gelassen hat, erscheint bei Bruel neu, ohne alles orchestrale Pathos, nicht als Stimme des Volks, sondern eines Indidivuums, das sich seiner Abhängigkeiten bewusst wird. Bruel geht weit zurück, bis zu der Zeit der Commune-Hit „Le temps de cérises“ (übrigens im Duett mit dem 80er-Jahre-Fast-Popstar Jean-Jacques Goldmann, so wie er auf diesem Album mit vielen Kollegen singt, „Ménilmontant“ übrigens mit Charles Aznavour) oder dem legendären 20er-Jahre Erotik-Lullaby „Parlez-moi d’amour“. Für das „neue“ Chanson steht längst Benjamin Biolay, der inzwischen die halbe französische Szene produziert, die Grenze zum Pop öffnet und mittlerweile selbst im „Spiegel“ story-tauglich ist, aber auch Yann Tiersen oder „die“ Bruni.
Wer einen ersten soliden Überblick sucht, für den ist immer noch „le pop“, Untertitel „die chansons der nouvelle scène francaise“ die beste Adresse; hier finden sich neben den schon Genannten zum Beispiel auch Francoiz Breut, Katerine oder Bertrand Burgalat.
Ausgewählte Alben:
- Patrick Bruel: Entre-deux…
RCA/BMG - (Sampler) Le pop
groove attack - (Sampler) Die fabelhafte Welt des Chansons
Universal