Frank Martins „Le vin herbé“, 2007 in der Duisburger Gebläsehalle, war für Willy Decker ein „Schlüsselerlebnis“. Publikum und Kritik waren sich selten einig. Eine Inszenierung, die der Höhe eines Kunstentwurfs gerecht geworden ist (nmz 11/07). Um so größer die Freude, aber auch die Erwartung, als die Nachricht kam, dass Decker nach Jürgen Flimm die Intendanz für die kommenden drei Triennale-Spielzeiten übernehmen würde mit Religion und Spiritualität als thematischem Zentrum.
Beginnend mit dem Judentum befassen sich vom 15. August bis 11. Oktober insgesamt 30 Produktionen an vier Spielorten (Bochum, Duisburg, Essen, Gladbeck) zunächst mit Aspekten der großen monotheistischen Wortreligion. 2010 folgt die „Wanderung“ mit dem Islam, 2011 die „Ankunft“ im Buddhismus. Deckers erste Spielzeit „Aufbruch“ macht ihrem Namen alle Ehre. Sie beginnt am 22. August spektakulär mit Arnold Schönbergs Zwölftonoper „Moses und Aron“ in der Regie des Intendanten. Darüber sowie übers Generalthema, die Faszination der Religion auf die Kunst im allgemeinen, auf den Künstler Willy Decker im besonderen, hat er nun Auskunft gegeben.
neue musikzeitung: Die Religionen werden Thema der Ruhrtriennale. So gelesen hat es etwas Positivistisches, das Sie aber wohl nicht meinen?
Willy Decker: Es geht mir um das, was ich den religiösen Urimpuls nenne, nicht um die institutionalisierten Religionen, sondern um die Annäherung – und zwar mit künstlerischen Mitteln – an ein Urmoment, das sehr viel tiefer liegt als seine Ausformulierung in den Religionen. Ich verstehe dies als einen Impuls, der ein zutiefst menschlicher ist und der sehr früh liegt. Das ist eigentlich der Grund, warum ich ihn zu meinem Thema genommen habe. Er ist zutiefst verwandt mit dem ersten künstlerischen Impuls. Beides ist eigentlich ein Transzendieren.
nmz: Transzendieren heißt Übersteigen. Was wird überstiegen?
Decker: Es ist dieselbe Frage wie: Warum mache ich Kunst? Ich glaube, Kunst hat die Aufgabe, uns ein Stück weit Türen zu öffnen in eine Wirklichkeit, die jenseits unserer Alltagswirklichkeit, jenseits der beschreibbaren, mit Sprache und Intellekt erfassbaren Wirklichkeit ist.
nmz: Befürchten Sie eigentlich nicht die Reaktionen der in Kirchen, Dogmen und Systemen manifest gewordenen Religionen, die da sagen werden: Hervorragend, Herr Decker! Religion macht Sinn! Haben wir alles schon im Angebot!?
Decker: (Lacht) Ja, das ist denkbar. Der berühmte Applaus von der falschen Seite. Ja, alles denkbar, alles auch an Gefahr vorhanden, aber das darf mich nicht davon abhalten, diese Diskussion dennoch zu eröffnen.
nmz: Sie sind also nicht zu den Kirchen gegangen, um, sagen wir, Sponsorengelder einzuwerben?
Decker: Das gibt es bewusst nicht. Es gibt keine Verbindungen zu den Institutionen. Das wollte ich auch von Anbeginn nicht. Sponsoring sowieso nicht. Es gibt keine Berührung da. Ich möchte nicht auf der Ebene der Institutionen argumentieren und auch nicht im Schlepptau der Institutionen, sondern jenseits davon beziehungsweise davor. Es geht mir, wie gesagt, darum, den Blick auf diesen allerersten Moment zu richten – bevor Gesetze geschrieben werden, bevor Machtstrukturen entstehen, bevor Religion auch zum Ordnungsprinzip wird. Vielmehr interessiert mich diese Verwandtschaft zwischen religiösem Urimpuls und künstlerischer Ursehnsucht, die ich auch in meinem eigenen Erleben als Künstler kenne. Diese näher zu betrachten, näher zu entschlüsseln, auch zu vermitteln, habe ich mir vorgenommen.
nmz: Gibt es dafür eigentlich eine Theorie, der Sie folgen?
Decker: Ich denke nicht, dass ich daran irgendeine Theorie dranhänge. Es gibt natürlich verschiedene Verwandtschaften, die andere geäußert haben ...
nmz: „Das Geistige in der Kunst“?
Decker: Ja klar, natürlich, Kandinsky. Es gibt auch Verbindungen zu Adorno, auch zu Ken Wilber, ein amerikanischer Denker, Zeitgenosse. Es gibt viele Verwandtschaften, die auch ins Künstlerische reichen: Kafka, Rilke, auch Schönberg. Aber eine einheitliche Theorie an einer bestimmten Person festgemacht? – Das kann ich nicht sagen
nmz: Es kommt aus der Kunsterfahrung heraus?
Decker: Ja, das kann man so sagen beziehungsweise aus der Erfahrung des agierenden Künstlers. Gleichzeitig auch, was sich bei mir parallel entwickelt hat, eine Erfahrung der Meditation, die einen Punkt erreicht, der sozusagen das Feld öffnet für Impulse, die nicht erdacht sind, sondern die entstehen, spontan entstehen. Es gibt viele Meister, die nennen die Situation in der Meditation das Denken am Grunde des Nichtdenkens. Und das ist sehr, sehr tief verwandt mit dem Raum, in dem künstlerische Ideen entstehen. Der entsteht ja auch nicht, indem ich mich hinsetze und mir vornehme: Ich habe jetzt eine Idee!, sondern ich versuche, mich hineinzubegeben in einen freien Raum, auch leeren Raum durchaus, in dem dann der künstlerische Impuls, der kreative Impuls entstehen kann.
nmz: Ist das auch der Grund, weshalb Sie 2011 im Buddhismus ankommen möchten?
Decker: Ja, das hat schon eine gewisse Zielgerichtetheit, ein blödes Wort. Sagen wir vielmehr, diese Dreierkonstruktion Judentum-Islam-Buddhismus hat ja durchaus einen erhofften Weg, den ich mir vorstelle über die drei Jahre.
nmz: Warum ist eigentlich das „christliche Abendland“ ausgefallen?
Decker: Ganz banaler Grund. Hätte ich vier Jahre, wäre das auch dabei. Es war mir aber jetzt wichtig, dass wir die anderen Religionen betrachten. Also sprich, nachdem ich den beiden monotheistischen Religionen begegnet bin, durchaus einen Schwenk zu machen zu einer nichttheistischen Religion und damit das Spektrum sehr weit aufzumachen, um da auch durchaus alternative Möglichkeiten des religiösen Impulses oder transzendenten Denkens zu finden. Moderne Künstler haben oft eine starke Affinität zum Buddhismus, weil er das Meditative so stark betont und auch das Feld der Leere öffnet.
nmz: Das Nichtvoluntaristische ...
Decker: Ja, so ist es.
nmz: So, wie Sie es eben beschrieben haben, kommen wir ja im Handumdrehen in die Nähe des Daodejing, wo der „Weg“, das „Dao“, das eigentümlich Dritte sein soll zwischen Handeln und Nichthandeln ...
Decker: Ja, man sagt ja auch: Das Dao, das beschrieben werden kann, ist nicht das Dao. Das zeigt eine sehr starke Berührung mit Künstlerischem. Also, was ich per Begriff, per Lehrsatz beschreiben kann, ist nicht das, worum es geht, das Künstlerische.
nmz: Andererseits sind da die Worte. Wir brauchen sie, sie fehlen uns, aber, wenn wir sie haben, verfehlen sie ...
Decker: Ja, so ist es: Dilemma der Sprache. Doch nicht vergessen! Das Festival ist kein großes Kolloquium. Das ist ein künstlerisches Festival. Es geht um Kunst, um die Spiegelungen von Transzendenz im Künstlerischen. Und das schwerpunktmäßig auf bestimmte Traditionen, das Jüdische, Islamische, Buddhistische. Ich denke mal, durch das, was sichtbar wird im Festival (also sprich: Moses und Aron, Teorema nach Pasolini, Roths Hiob und all die andern Dinge) erklärt sich eigentlich, dass nicht die institutionalisierten Religionen gemeint sind, sondern dass man jenseits davon schaut.
nmz: Sie geben das Stichwort. Was verraten Sie uns über Ihren „Moses“, mit dem Sie ja das Festival eröffnen?
Decker: Eigentlich war „Moses“ von Anfang an zwingend als Urzündung für diese drei Jahre selbstverständlich. Konnte ich gar nicht anders denken, wenn ich ehrlich bin. Denn die Grundproblematik formuliert sich uneingeschränkt in diesem Stück, und zwar erschöpfend und auch in seinen ganzen Ausmaßen. Und auch die Verwandtschaft des Moses zu Schönberg selbst, auch die künstlerische Problematik. Wie soll ich sagen? Das heißt, ich erkenne etwas in diesem künstlerischen Urmoment, was ich jetzt sinnlich erfahrbar machen muss. Also ich finde in diesem kreativen Urmoment etwas, was ich vermitteln muss. Und auf einer ideell-geistigen Ebene steht Moses vor dem gleichen Problem. Und diese beiden Ebenen – also die Tragödie des vermittelnden Propheten und das Dilemma des Künstlers – greifen da tief ineinander.
Und diese Urfrage: Ist das Erleben einer größeren Wirklichkeit oder einer Transzendenz vermittelbar ohne das Eigentliche, was ich erlebt habe, zu verraten? Und alles das ist in diesem Stück abgehandelt und extrem lebendig nach wie vor.
nmz: Inwiefern spielen da für Sie die Räume, die umfunktionierten Industriekathedralen der Ruhrtriennale hinein?
Decker: Das war bei mir, als ich 2007 hierherkam, ein ganz eigenes persönliches Erleben. Jürgen Flimm hat gesagt: Komm her, mach was! Und dann die Begegnung mit der Gebläsehalle in Duisburg. Für mich ein Schlüsselerlebnis. Da konnte ich all diese Dinge frei aufgeben, woran ich 30 Jahre lang in den großen Opernhäusern gewöhnt war. Also diese feststehende Zentralperspektive. Plötzlich war ich in Räumen, in denen eine wahnsinnige Energie herrscht und die andererseits vollkommen nackt und ungeschminkt sind. Die mich befragen auch. Da kann ich nicht einen Guckkasten hineinstellen, sondern ich muss in diesem großen leeren freien Raum sehr viel transparenter und freier arbeiten.
nmz: ... kein Bildnis machen ...
Decker: Ja, in einer solchen Halle denkt man unwillkürlich: Was willst Du mit nem Bild hier? Was willst Du mit einem Bühnenbild? Bis Du feststellst, Du musst versuchen, einen Raum zu betreten, in dem sich diese Frage nicht mehr stellt.
Hinzu kommt, dass diese Räume immer noch eine Atmosphäre von Arbeit abstrahlen. Nicht so sehr von einer Feierlichkeit, von einer Atmosphäre des Besonderen, sondern sie sind direkt, ungeschminkt, extrem, bis hin zu persönlichsten Dingen ...
nmz: Sie kommen aus proletarischem Milieu?
Decker: Ja, aus einem Arbeiterelternhaus. Und dann, als Kulturschaffender entfernt man sich davon ganz weit. Und dann plötzlich morgens in Duisburg durch dieses Fabriktor zu gehen, war auch eine Rückkoppelung an meinen Vater. Das war eine tief berührende Angelegenheit. Übrigens verbietet es sich auch in diesen Räumen, zu schummeln. Man kann nicht wegleuchten. Man kann nicht verstecken. Das hat mich 2007 sehr, sehr stark bewegt.
nmz: Die Faszination ist geblieben?
Decker: Soweit, dass man bereit ist, wieder ein Experiment einzugehen, indem man sich sagt: Was wäre, wenn ich jetzt von Null ausgehe, von absolut Null? Oder von dem Moment, wie wir jetzt alle zusammen in dieser Halle sind, an diesem Tag um soundsoviel Uhr, um diesem Schönberg zu begegnen? Und dann startet plötzlich ein Gedanke, der hier und jetzt diesen Raum betritt. Was geschieht jetzt?
Ob das gelingt? Ich weiß es nicht. Umgekehrt. Wenn man nur sicher gehen will, dass es hinterher auch funktioniert, dann wird man sich nichts mehr trauen. Ich glaube sogar, Schönberg hat das gesagt ...
nmz: Risiko ist Programm!, hat ihr Vorgänger Jürgen Flimm gesagt.
Decker: Ja, ist ein gutes Wort. Und wenn man sich das Risiko verbietet, auf ganz vielen Ebenen, in der Kunst
nmz: ... im Leben ...
Decker: ... im Leben, beim Denken, dann entfernt man sich vom, wie soll ich sagen, Eigentlichen.
nmz: Bei soviel Religionsfaszination, kann man sich fragen: Wo bleibt die Religionskritik?
Decker: Durchaus, wobei die ganze Problematik schon in diesem Stück selbst stattfindet. Aron tut ja nichts anderes, als das, was Moses erlebt, in Regeln zu gießen. Und das ist ja, worüber wir sprechen, wenn das religiöse Urmoment schon wieder verzerrt wird. Und Moses Antworten auf Aron sind natürlich auch eine ganz tief verzweifelte Kritik an diesem Vorgang ...
nmz: Entscheiden Sie sich für eine Seite?
Decker: Hm, die beiden greifen so ineinander. Die werden ja auch oft bewusst eins. Aktuell kann ich mich nicht für die eine oder andere Seite entscheiden. Und wohl auch in der letzten Konsequenz nicht.
nmz: ... also die Spannung halten ...
Decker: Das wäre die Kunst – gerade in diesen Räumen. Ich frage ja danach, ob sie etwas von den Transzendenz-Erfahrungen der Religionen vermitteln können. Haben sie für uns eine neue Relevanz?
nmz: Die Ruhrtriennale ein Festival für die postreligiöse Gesellschaft?
Decker: Ja, nicht schlecht, da könnte ich mich durchaus mit einverstanden erklären. Unsere Gesellschaft in der gegebenen Situation (ob man dies nun unter die Überschrift Globalisierung oder Finanzkrise stellt) wird suchen müssen. Und da müssen wir Fragen stellen in ganz verschiedene Richtungen. Und die müssen auch alle erlaubt sein.
Das Interview führte Georg Beck.