Vor 100 Jahren: Musikalische Jugendkultur [August Halm, Neue Musik-Zeitung, 40. Jg., 1919, Heft 13] / Vor 50 Jahren: Cluster und Klerus oder: Der unaufhaltsame Abstieg des Krzysztof Penderecki [Hartmut Lück, Neue Musikzeitung, XVIII. Jg., 1969, Nr. 4 (Aug./Sept.)]
Vor 100 Jahren
Musikalische Jugendkultur
[…] Denken wir ernstlich darüber nach, welchem Unterricht wir sie ausgesetzt, welche verdummenden Kräfte wir aus Klavier- und Violinschulen auf sie losgelassen, auf welch ungenügende geistige Nahrung wir sie gesetzt haben, in welch unpassender, teils konzertbürgerlicher, teils ästhetisch luxushafter Kunstluft wir sie atmen ließen: müssen wir da nicht geradezu Freude über ihren Entschluß empfinden, ihre Geschicke nunmehr in der Hauptsache uns aus der Hand, ihr Tun und Lassen unter ihre eigene Verantwortung zu nehmen, kurz den auf dem Jugendtag […] gefaßten Vorsatz auch auf die Tonkunst anzuwenden […]?
Man betrachtete es mehr und mehr als selbstverständlich, daß die Musik bei den Musikern doch am besten aufgehoben und gepflegt sei; man sah im Konzertwesen das eigentliche Gebiet für das Musizieren, man glaubte an die unendliche Linie der Geschichte, an das stetige Fortschreiten, und dachte, der Fortschritt geschehe vor allem in den größten Werken, will sagen in den Kompositionen, die zu ihrer Ausführung den größten Apparat beanspruchen. Wie nun, wenn das Wichtigste im musikalischen Geschehen einstweilen in aller Verborgenheit, abseits von dem offiziellen, dem gleichsam hieratischen Musikbetrieb vor sich gegangen wäre oder sich vorbereitet hätte? […] In der Tat könnte es so sein: Die Kunst hat sich wieder mit dem Leben verbunden […], während ihre Stiefschwester, die Luxuskunst, die Musik der oberen Gesellschaftsschichten, ihre Unlebendigkeit hinter Programmen schlecht genug versteckte. […] Den längst geprägten Gegensatz: Konzert- und Hausmusik behält man noch heute bei […].
Heute handelt es sich aber um den tieferen Gegensatz: Alters- und Jugendmusik oder, wenn wir so wollen, bürgerliche und menschliche Musik. Wer dieser helfen will, nehme seinen Ernst, sein Können zusammen, verabschiede Ueberhebung und Gönnermiene; eine wahrhafte Strenge des Freundeswillens wird echte Jugend willkommen heißen.
August Halm, Neue Musik-Zeitung, 40. Jg., 1919, Heft 13
Vor 50 Jahren
Cluster und Klerus oder: Der unaufhaltsame Abstieg des Krzysztof Penderecki
[…] Als bald darauf Pendereckis inbrünstiges „Stabat Mater“, dann die „Lukaspassion“ und das Oratorium „Dies Irae“, geschrieben zur Einweihung eines neuen Ehrenmals auf dem Gelände des ehem. KZ Birkenau, herauskamen, von einem Komponisten aus der sozialistischen Volksrepublik Polen, der sich selbst als „Linkskatholik“ bezeichnete, da stand für die internationale Gilde der Akklamateure […] fest, daß […] ein neuer Markenartikel die Szenerie der Musikbörse betreten und steil den Kurs der Neutönerei nach oben getrieben hatte. […]
Merkwürdig genug ist schon, daß Pendereckis künstlerisch-politisches Engagement fast stets im Rahmen oder doch in der Nähe kirchlich-liturgischer Formen sich einstellt bzw. sich religiöser Inhalte bedient, um sich zu artikulieren. […] Zeigt sich in der oberflächlichen Parallelisierung des „Leidens Christi“ mit dem „Leiden von Auschwitz“ schon eine wenig adäquate Ungenauigkeit […], so ist die Verknüpfung der im KZ Ermordeten mit den armen Sündern eines klerikalideologisch verbrämten Christentums eine prekäre politische Fehleinschätzung. […]
Der affirmative Musikbetrieb der spätbürgerlichen Gesellschaft hat Penderecki in sich aufgesogen (so wie dieser jenen in sich) […]. Das „Engagement“ dieses Komponisten ist regressiv und reaktionär; noch nie hat er die Aktualität des Faschismus im nahen Europa wie im fernen Vietnam […] konstatiert oder gar künstlerisch formuliert. […] Ist Penderecki genau der richtige Mann für den reaktionären Flügel des Klerus (auch in seiner polnischen Heimat) sowie für jene „kulturtragenden“ Kreise des Bürgertums, denen Engagement nur als Bestätigung der eigenen Herrschaft erwünscht ist? Wo steht der „Linkskatholik“ Penderecki wirklich?
Hartmut Lück, Neue Musikzeitung, XVIII. Jg., 1969, Nr. 4 (Aug./Sept.)