Am 23. Oktober begeht der japanische Komponist Toshio Hosokawa seinen 60. Geburtstag. Auf dem Würzburger Mozartfest wurden im Juni seine „Drei Engel-Lieder“ sowie die „Elegy“ für Violine und Streichorchester aufgeführt (Konzertkritik siehe unten). Weitere Werke von ihm werden von Juli bis Oktober vor allem in Berlin, in der Staatsoper im Schillertheater und im Radialsystem, sowie im Regensburger Stadttheater zu hören sein. In der im Folgenden abgedruckten Rede, die Hosokawa aktuell beim Mozartlabor des Mozartfestes hielt, sprach er eindrücklich über sein Komponieren und sein Verhältnis zu Mozart.
In Japan gibt es bekanntlich die Blumenkunst „Ikebana“. Da gestaltet man Blumen in einem bestimmten Raum des Hauses und stellt sie aus, doch entfaltet sich darin zugleich eine spezifische Weltsicht, die sich abhebt von den Blumenarrangements in Europa. Auch während dieses Mozart-Festivals schmücken viele Blumen die Räume. Ich glaube, das tut man, um die Räume prächtig erscheinen zu lassen und gleichzeitig die Schönheit der Natur der menschlichen Welt – als einen Schmuck – hinzuzufügen. Auch in Japan sieht man oft solche Blumendekorationen. Aber die eigentliche, traditionelle Kunst des Ikebana ist wesentlich anders als solche Blumenarrangements.
Im Ikebana wird die Blume als etwas aufgefasst, das von den Feldern abgeschnitten ist und hineingenommen in den Raum, in dem die Menschen leben. Diese Blumen atmeten in der Erde, aber ihr „Leben“ ist nun abgeschnitten. Sie leben nicht mehr, im Hintergrund ist der Tod da. Und indem man den letzten Schimmer ihres Lebens im Raum spürbar werden lässt, tritt der Wert des Lebens – das Wirken- und Standhaltenkönnen – um so deutlicher hervor. Diese Blumen bilden keinen üppigen Strauß, man bringt vielmehr nur eine Blume zur Erscheinung oder steckt ein paar von ihnen zusammen. Dabei ist es sehr wichtig, wo man diese Blumen platziert: Der Hintergrund wird zum wesentlichen Moment der Gestaltung.
Flüchtigkeit des Vergehenden
Wir Japaner empfinden die Flüchtigkeit des Vergehenden als schön. Daher lieben wir „Sakura“, die Kirschblüte im Frühling. Diese Kirschen-Sorte hat, anders als die deutsche, keine essbaren Früchte. Und die Blütezeit ist ganz kurz. Längstens vier bis fünf Tage blühen sie, dann fallen die Blüten. Wir empfinden gerade diesen Vorgang des Herabfallens als etwas Schönes. Denn auch unser Leben währt nicht ewig; es blüht kurz, um dann zu vergehen, und gerade aus einem solchen Bewusstsein der Flüchtigkeit heraus empfinden wir es als kostbar und schön.
Ich glaube, es gibt zwei verschiedene Arten des Kunstschönen: zum einen die Kunst, die sich gegen die Vergänglichkeit und gegen das Verschwinden wehrt, zum anderen diejenige, die sich einlässt auf die verschwindende Zeit und im Einklang steht mit dem Vergänglichen. In Europa scheinen viele Künste aus einem Widerstand gegen das Vergehen zu erwachsen. Dies entspricht der christlichen Vorstellung, dass von Gott das ewige Leben gegeben ist. So scheint mir zum Beispiel, Bruckners großartige Symphonien wollen in ihrer „tönenden Architektur“ schon etwas wie Ewigkeit ahnen lassen.
Was aber ist ein Ton? Er entsteht und vergeht. Er wird aus dem Schweigen geboren und sinkt ins Schweigen zurück. Und deshalb ist der Ton nach meiner Empfindung so schön. Unsere traditionelle Musik Japans setzt solche Vergänglichkeit des Tons, das ihm innewohnende Vergehen voraus; davon ausgehend erleben wir die Qualität des Tons an sich sowie dessen Formung und Werden. Wir hören die einzelnen Töne und nehmen zugleich mit Wertschätzung den Prozess wahr, wie sie geboren werden und vergehen, sozusagen eine tönend in sich belebte Landschaft des Werdens. Wesentliche Bedeutung hat hierbei stets das Schweigen im Hintergrund des Erklingenden.
Musik als eine Kalligraphie in Raum und Zeit
Wenn ich komponiere, stelle ich mir meine Musik als eine Kalligraphie in Raum und Zeit vor. In der asiatischen Kalligraphie malt man mit dem Pinsel auf einer weißen Leinwand Linien, und dabei ist die weiße Fläche, die Leere auf der Leinwand genauso wichtig wie die Linien selbst. Einst habe ich einen bedeutenden Zen-Meister getroffen, der jeden Tag zur Selbstübung Kalligraphien gestaltete.
Einmal hat er vor meinen Augen auf einer großen weißen Leinwand mit einem großen Pinsel das chinesische Schriftzeichen „Do“ (der Weg) gemalt. Da sagte der Meister: „Die Kalligraphie entsteht nicht so, dass man gleich auf dem Papier anfängt zu malen. Stattdessen bestimmt man einen Punkt im leeren Raum und von diesem Punkt aus beginnt man zu malen und kehrt schließlich zu diesem Punkt zurück. Diese kreisend-lineare Bewegung ist die Kalligraphie.“ Er meinte wohl, die sichtbaren Linien auf dem weißen Papier bilden nur Spuren einer „Linienbewegung“, die von der Leere ausgeht und wieder in sie einmündet. Eine sichtbare „Linie“ resultiert quasi aus dem Kraftfeld einer unsichtbaren „Linienbewegung“; diese Idee hat auf meine Musik grundlegenden Einfluss ausgeübt.
Auch die musikalische Bewegung beginnt schon vor dem Erklingen und Gehörtwerden von notierten Zeichen. Vielmehr verweisen die Töne, die wir hören, auf eine unhörbare tiefere Welt. Diese Vorstellung ist Grund und Ausgang meines Komponierens.
Nun möchte ich Ihnen eine traditionelle japanische Musik, die ich sehr liebe, vorführen. „Shakuhachi Honkyoku, San-an“, gespielt von Tadashi Tajima, ist eine Musik für Shakuhachi (Bambuslängsflöte), die zwischen dem 16. und 17. Jahrhundert durch den Einfluss des Zen-Buddhismus entstand. Shakuhachi ist ein ganz schlichtes Instrument, ein Bambusrohr mit fünf Löchern. Diese Musik ist nicht dafür gedacht, für Andere gespielt zu werden, sondern als eine Übung für den Spieler selbst, dem Ton Tiefe, innere Substanz und Leben zu verleihen.
Die Ton-Linien sind wie diejenigen der Kalligraphie. Und die Geräusche, die während des Spiels sehr oft zu hören sind, sind im europäischen Flötenspiel verpönt, aber für den Shakuhachi-Spieler bilden sie das wichtigste Element des Tones. Denn durch das Entstehenlassen dieser Musik versucht sich der Spieler mit dem Klang der Natur zu vereinen. Das Ideal der Shakuhachi-Musik ist es, den Klang des Windes – einen Windklang, der den Bambushain durchweht – hervorzubringen. Es ist nicht das „Ich“, das die Musik ausdrückt; das „Ego“ verschwindet und der Mensch hört ein großes Strömen als ein Einswerden mit der Natur, und dieses Strömen versucht er auszudrücken.
„Mit Wehmut“
Ein solcher Klang, der mit der Natur eins geworden ist, dauert nicht ewig, sondern vergeht mit der Zeit. Mit der „Melancholia“, die dieser Vergänglichkeit, dieser Flüchtigkeit, innezuwohnen scheint, möchte das Klangspiel eins werden. Das entspricht der Haltung, sich nicht gegen diese spezifische Form von „Trauer“ zu wehren, sondern sich mit ihr zu vereinen, mit ihr mitzuschwingen. Das hört man in dieser Musik.
In der traditionellen japanischen Dichtkunst gibt es den Ausdruck „mononoaware“ (frei übersetzt: wehmütiges Gefühl für die Vergänglichkeit der Dinge). Dass ein Ding nicht ewig ist, empfindet man „mit Wehmut“. Hierin liegt nicht nur eine Traurigkeit beschlossen, sondern auch eine Haltung, das Vergängliche zu schätzen. In der Tiefe des Seins gibt es eine bodenlose Dunkelheit, aber zugleich gibt es eine Haltung, diese endliche, zart-zerbrechliche Existenz mit Liebe und Wertschätzung zu betrachten. In der Dunkelheit gibt es zugleich eine Heiterkeit der „Resignation“.
Vielleicht ist es meine subjektive Wahrnehmung, aber ich höre in der wunderbaren Musik von Mozart dieses „mononoaware“ (Wehmut beziehungsweise Melancholia); eine Trauer und tiefe Resignation gegenüber dem vergehenden Leben, gegenüber der Zeit. Es ist eine Haltung, die über das Ich hinausweist, eine Haltung, nicht an Vorstellungen von Ewigkeit festzuhalten. Das gemahnt an Mozart. In der musikalischen Gestalt des Klarinettenkonzerts oder des Klarinettenquintetts sind exemplarisch etwas wie Schonung, Resignation und vor allem die Liebe an das vergehende Leben zu spüren. Und das alles mit höchster Kunstfertigkeit gestaltet. Die „Trauer“ in dieser Musik ist eine „heitere“, ist wie ein transparenter, klarer Himmel an einem Herbsttag.
Mozarts Musik ist, nach meinem Gespür, nicht durch ein „Ego“ hervorgebracht; vielmehr erscheint sie, als sei sie aus einer anderen, jenseitigen Sphäre gekommen: gleichsam nur hörbar gemacht durch das – ihr nachlauschende – Medium Mozart. Ich liebe auch Beethovens großartige Musik, aber mir drängt sich immer der Eindruck auf, dass ein starkes „Ich“ im Kampf gegen die Vergänglichkeit diese Musik geschaffen habe. Im Vergleich dazu empfinde ich, dass das Ichhafte in Mozarts Musik verschwunden ist, dass dieser Genius vernommen hat, wie Töne natürlich fließen; dies hat er in schönster Weise auf dem Notenblatt abgebildet.
Vielleicht ist das meine subjektive Wahrnehmung. Ich glaube jedoch, in wirklich herausragenden Kunstäußerungen gibt es eine Art Resonanz über die Grenzen zwischen der westlichen und östlichen Welt hinaus. Mir erscheint Mozarts Musik als eine solche transzendierende, entgrenzende Kunst.
Heute habe ich zu sagen versucht, wie ich vom Standpunkt der japanischen Tradition her die Musik Mozarts hörend wahrnehme und empfinde.
Übersetzung: Chikako Kitagawa