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Tirol hat mehr zu bieten als katholische Verwuarzelungskultur: Hier pilgert man zur Neuen Musik. Foto: Astrid Karger
Tirol hat mehr zu bieten als katholische Verwuarzelungskultur: Hier pilgert man zur Neuen Musik. Foto: Astrid Karger
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In Schwaz kennt die Neue Musik keinen Elfenbeinturm: die Klangspuren 2009

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Die „Klangspuren“ sind mittlerweile eine Art Zauberwort in der schier unübersichtlichen Festivallandschaft geworden. Zu Recht. Denn bei den Klangspuren Schwaz in Tirol werden im September zeitgenössische Musik und Kunst bereits seit sechzehn Jahren mit großem Erfolg und mit tatkräftiger Unterstützung der ganzen Region präsentiert. Ein gut zweiwöchiges „Festival für Gegenwärtige“ zu konzipieren – das war auch in diesem Jahr das Ziel der Veranstalter.

Wer nach Tirol kommt und an Tirol denkt, denkt an das Wandern, denkt vielleicht an die katholische Verwurzelungskultur oder an die barocke Architektur, meint Festivalleiter Peter Paul Kainrath, und da bietet es sich praktisch an, kontrapunktisch vorzugehen. Barockes und Zeitgenössisches treffen insbesondere bei der musikalischen Pilgerwanderung aufeinander, die bei den Klangspuren mittlerweile zur Tradition geworden ist und den krönenden Abschluss des diesjährigen Festivals markierte. Auf den Spuren des Tiroler Jakobsweges ging es bei der erstmals zweitägigen Wanderung von Innsbruck bis nach Stams, wo das Ensemble Resonanz mit den Neuen Vocalsolisten Stuttgart und dem composers slide quartet im Stift das Abschlusskonzert gestaltete. Hinter den Pilgern liegen zu diesem Zeitpunkt nicht nur gut 35 Kilometer Wegstrecke, sondern auch 9 Stationen in verschiedenen Pfarrkirchen mit 9 Konzerten und zahlreichen Ur- und österreichischen Erstaufführungen für verschiedene Besetzungen. Das beeindruckende Spektrum der erlebten Musik reichte vom Orgelkonzert im Innsbrucker Dom zu St. Jakob mit Yoann Tardivel-Erchoff über die Uraufführung eines Oratoriums nach einer Legende um Bruno von Köln von Klaus Lang (Text: Händl Klaus), einer Komposition für den Kalvarienberg St. Antonius von Sebastian Themessl bis hin zu einer Reihe von Werken für im Raum verteilte Musiker von Wolfgang Mitterer, Martin Smolka, Klaus Huber oder Günter Steinke und anderen. Das Erleben von zwei oder drei Kompositionen, manchmal auch nur einem einzigen Stück, wurde durch die zu erwandernde Wegstrecke dazwischen zum konzentrierten Ruhepunkt. Diverse Sinne – gerade noch ganz konzentriert auf körperliches Bewegen – schienen geschärft und offen für die eindrücklichen Raum- und Klangereignisse in den barocken, meist hohen und weitläufigen Pfarrkirchen.

Dabei formte sich ganz selbstverständlich eine Hörerschaft, die sich eben nicht beim Gläschen Wein im Anschluss an ein Konzert mehr oder weniger zufällig über das soeben Gehörte austauscht, sondern mehr Zeit miteinander verbringt und sich auch auf einer nicht fachlichen, ganz unmittelbaren Ebene während des Wanderns verständigt. Das Konzept dieser Pilgerwanderung ging schließlich aber nicht nur aufgrund des großen Publikumszuspruchs auf, sondern vor allem, weil die Stücke äußerst behutsam ausgewählt waren und unmittelbar packten. Dass das in Zusammenarbeit mit dem Ensemble Resonanz und den Neuen Vocalsolisten Stuttgart initiierte Projekt „Im Sog der Klänge“ drei Stationen der Pilgerwanderung bestimmte, war überaus bereichernd, beschäftigt sich dieses Konzept doch mit 400 Jahren Mehrchörigkeit.

Barocke Meister der Polyphonie wurden mit neuen Stücken konfrontiert, wobei das verbindende Element die Besetzung ist: Sänger, Streicher, Posaunen, ein puristischer Ansatz, der dennoch vielfältige Kombinationen ermöglicht. Und so war gleich das morgendliche Konzert am zweiten Wandertag in der Pfarrkirche in Inzing mit Stücken von Cesario Gussago und Georg Friedrich Haas ein Höhepunkt. Schon die Musik des Barockkomponisten machte deutlich, dass Surroundsound nicht als bloßer Klangeffekt, sondern als kompositorisches Prinzip eine Rolle spielte. Und in Haas’ „Open Spaces II“ waren die Hörer dann ganz umgeben von den filigranen und mit schwebenden Obertonkonstellationen durchwirkten Klangschleifen, die den barocken Kirchenraum eroberten, vorsichtig tastend und suchend, zugleich aber nirgends zielgerichtet hinführten. Spätestens hier wurde ganz unmittelbar spürbar, dass Musik eine dreidimensionale Angelegenheit geworden war.

Wohltuend ist, dass solch unvergesslich eindrückliche Momente in den Alltag des Dorflebens eingebettet sind. Vor dem Konzert kam gerade noch die Musikkapelle vorbei, begleitet von Ministranten, die die Erntedank-Feierlichkeiten vorbereiteten. Auch für den Dirigenten Titus Engel war dieses Nebeneinander etwas Besonderes. „In dem Stück von Haas war plötzlich Weihrauchgeruch im Kirchenschiff. Das war für mich ein toller Moment, weil das gerade eine Stelle war, wo sich zwei Akkorde ganz eng ineinander verschmolzen haben. In der Kirchenatmosphäre gab es dadurch ein fast sakrales Moment, auch wenn die Musik selbst dieses vielleicht gar nicht in sich trägt. Aber Musik ist immer kontextgebunden und entwickelt so eine bestimmte Wirkung.“

Die musikalische Pilgerwanderung war dieses Jahr aber nur ein unverwechselbarer Programmpunkt der insgesamt 29 Festivalveranstaltungen. Mit dem Länderschwerpunkt Lateinamerika wurden viele Aspekte zeitgenössischer Musik des hier doch immer noch recht unbekannten großen Kontinents vorgestellt. Südamerika ist musikalisch auf dem Weg zur Selbständigkeit, und diesen Weg konnten die Klangspuren deutlich machen und mittragen.

Ein Höhepunkt war dabei das Konzert des Ensemble Orquesta Experimental de Instrumentos Nativos aus Bolivien, bei dem Neue Musik auf traditionellen Inka-Instrumenten zu hören war. Neben österreichischen Komponisten und Ensembles, der Internationalen Ensemble Modern Akademie und den beiden composers in residence – dem Argentinier Martin Matalon und dem Tiroler Komponisten Johannes Maria Staud – galt erstmals ein Blickpunkt dem deutschen Nachbarn. Eine Auswahl Münchner Interpreten gab einen facettenreichen Einblick in die freie Musikszene der bayerischen Landeshauptstadt.

Der im Juli verstorbene Musikjournalist Reinhard Schulz, langjähriges Mitglied des Klangspuren-Teams, hatte den repräsentativen „München-Abend“ programmiert. Das Ensemble Piano Possibile spielte Stücke von Nikolaus Brass, Josef Anton Riedl, Axel Singer, Moritz Eggert, Markus Muench und Klaus Schedl, die Münchner Pianistin Sabine Liebner Spätwerke von Morton Feldman und Galina Ustwolskaja. Dieses Gedenkkonzert bestach durch seine brillante Dramaturgie und zeigte, dass Münchens gegenwärtige Musikszene weit vielseitiger und experimentierfreudiger ist als es oft nach außen hin scheint. „Es sind Komponisten“, so Peter Paul Kainrath, „denen auch eine musikpolitische Position immer wieder wichtig war und ist. Dafür stand Reinhard Schulz auch in der Diskussion um die jeweilige Programmentwicklung, dass Musik einfach viel mehr als ein Ornament sein muss und vor allem Neue Musik eine unmittelbare Kraft hat.“ Dass sie diese vor allem dann hat, wenn ein Festival als Plattform imstande ist, diese Musik in Kontexte zu stellen und die kreativen Biographien hinter den Personen zu thematisieren, bewiesen die 16. Klangspuren ganz ausgezeichnet.

Nichts lässt hier in und um das Tiroler Dorf an ein Elfenbeinturm-Dasein der zeitgenössischen Musik denken, nichts an Sperriges, schwer zu Vermittelndes. Das Festival ist längst vor Ort verwurzelt, wird wahrgenommen und vor allem: angenommen.

Nächstes Jahr wird Russland Länderschwerpunkt sein. Das lässt erneut auf Widerständig-Faszinierendes hoffen.

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