Im Norden Europas hat das Chorsingen eine reiche Tradition, aber es werden auch neue, ungewöhnliche Wege gegangen. Dort entstehen Chorwerke, die stilistisch breit gefächert und klanglich spektakulär sind. Die Vielfalt und Produktivität scheinen mir fast größer zu sein als in Deutschland, wo beim Deutschen Chorfest in Stuttgart die meisten Werke in der Wettbewerbskategorie „Zeitgenössische Musik“ schon zur klassischen Moderne zählten. Stöbert man bei den deutschen Chormusikverlagen nach neuen Veröffentlichungen, stößt man auf viele skandinavische, baltische, osteuropäische und amerikanische Namen.
In einem Forschungssemester habe ich die Chorarbeit in Teilen Skandinaviens und des Baltikums erkundet. Ich wollte wissen, welche Literatur in Norwegen, Finnland und Estland gesungen wird. Mich interessierte die Frage, ob dort eher ein Publikum für zeitgenössische Chormusik vorhanden ist als in Deutschland. Außerdem war ich neugierig darauf, in welcher Form an den Hochschulen anderer Länder Chorleitung unterrichtet wird.
Tallinn/Estland
Ich besuche einen jährlich stattfindenden Konzertabend mit zehn Uraufführungen in der Methodistenkirche. Eingestellt bin ich auf ein hochkarätiges Vokalensemble, das avantgardistische Musik darbieten wird. Weit gefehlt – ich erlebe zwei Kinderchöre, zwei Mädchenchöre von Musikgymnasien, den Knabenchor der Oper, zwei hervorragende Männerchöre und mehrere gemischte Chöre. Alle Laienensembles bewegen sich sängerisch auf erstaunlich hohem Niveau. Dargeboten werden zehn extrem unterschiedlich klingende Stücke. Der Bogen reicht von eher volksliedhaft oder poppig anmutenden Kinderstücken über chorsinfonische Klanglandschaften für Mädchenchor bis hin zu rhythmisch und harmonisch komplexen Werken. Darin führen die Sänger/-innen, mit Stimmgabeln ausgestattet, virtuose Partien aus. Es gibt lyrisch-expressive Stücke, die mit erweiterter Dur-Moll-Tonalität arbeiten, bitonale und freitonale Werke und durch rhythmische Ostinati getragene Partituren. Ich staune über die Vielfalt an Stilen und Kompositionsweisen, die Sanglichkeit der Melodien, die Ausdrucksstärke und Originalität in der Textauswahl und die technische Perfektion der chorischen Darbietungen. Fast alle Komponisten sind anwesend und feiern mit den Chorleitern und Chören den gelungenen Abend. Erst beim Verlassen des Konzertes entdecke ich die Notenausstellung, in der ich einen Teil der gehörten Werke käuflich erwerben kann.
Am nächsten Tag suche ich das Estonian Music Information Center (EMIC) auf. In einer mittelgroßen Altbauwohnung arbeiten drei Damen, die neue Chorwerke katalogisieren, Partituren einscannen und sämtliche Konzertmitschnitte archivieren. Auf einem uralten Computer kann ich mich über jegliche Chormusik estnischer Komponisten informieren, Partituren lesen und zeitgleich die Mitschnitte der Uraufführungen hören. Bei Interesse werden auf Nachfrage Partituren angefertigt. Bis zur Schließung des Büros gehe ich auf musikalische Entdeckungsreise. Komponistinnen und Komponisten, deren Werke mir besonders gefallen, sind Helena Tulve, Tõnu Korvits, Evelin Seppar und Galina Grigorjeva. Auffällig viele Frauen komponieren und dirigieren in Estland, was mit der Entwicklung des Kulturlebens unter sowjetischer Prägung zusammenhängen könnte.
Täglich besuche ich die Proben des Eesti Filharmoonia Kammerkoor, der unter Leitung seines Chefdirigenten Kaspars Putninš ein ungewöhnliches Weihnachtsprogramm für E-Gitarre und Chor probt. Verschiedene E-Gitarristen haben Stücke geschrieben und begleiten den Chor auf ihrem Instrument. Nicht alle Kompositionen bieten dankbare Aufgaben für das hochprofessionelle Ensemble. Aber Putninš versucht, allen Werken und Interpreten gerecht zu werden, indem er Stimmen umbesetzt, dynamische Bezeichnungen ändert, Silben variiert und Register ausbalanciert. Elemente aus dem Flamenco treffen auf klassische Vokalpolyphonie und chorische Sphärenmusik auf rockig verzerrte Sounds. „Die Besetzung Chor und E-Gitarre hat bei uns Tradition“ lacht eine der Sängerinnen. „Wir mögen den Stilmix aus Jazz, Folk und traditioneller Chormusik. Außerdem haben wir viel Spaß in den Proben mit den coolen E-Gitarristen.“
Später treffe ich Toivo Tulev, Professor für Komposition an der estnischen Musikakademie, zum Interview in einem Cafe in der Altstadt Tallinns. Ich frage ihn, inwiefern die starke Ausstrahlungskraft Arvo Pärts das Musikleben der Esten geprägt hat. Seine Antwort: „Pärt hat einen sehr positiven Einfluss auf die Entwicklung unserer musizierenden Gesellschaft gehabt. Das Problem besteht jedoch darin, dass er den Musikern eine Idee hinterlassen hat, welche lautet, dass die Dinge so einfach wie möglich sein sollen. In seinen Stücken, die natürlich eine immense Hörerschaft erreichen, nimmt der Text eine wichtige Rolle ein. Aber selbst in China, wo die Leute den Text nicht verstehen, fängt jemand im Publikum zu weinen an, weil ihn die Musik Pärts so mächtig berührt. Allerdings wäre die Entwicklung unserer Musikgeschichte ohne ihn vielleicht anders verlaufen. Vielleicht wären Sänger und Dirigenten dann offener für Mikrotonalität und komplexere Strukturen.“
Mit Toivo Tulev besuche ich ein Konzert von „Vox Clamantis“, dem bekanntesten estnischen Solisten-Vokalensemble. Auf dem Programm stehen mittelalterliche und Renaissancestücke sowie Musik von Helena Tulve und Arvo Pärt. In der übervollen Kirche frage ich einen kahlhäuptigen älteren Herrn mit Haarkranz, ob der Platz neben ihm frei ist. Er bejaht und dreht sich nickend nach mir um. Ich schaue in das freundliche Gesicht von Arvo Pärt.
Oslo/Norwegen
Die Klasse der Masterstudierenden im Fach Chorleitung an der norwegischen Musikakademie wird von Grete Pedersen betreut. Fünf Tage lang proben die Studierenden mit 16 professionellen Sänger/-innen des „Norske Solistkor“. Auf dem Programm stehen Werke von Max Reger, Clytus Gottwald, Frank Martin, Björn Kruse und Hakon Berge. Schon in der ersten Probe klingt der Chor fantastisch homogen, obertonreich und intonationsrein. Die Mehrzahl der Studierenden weiß mit dieser Vorlage umzugehen und kommuniziert sofort gestisch-musikalisch mit dem Ensemble. Projekte dieser Art finden mehrfach jährlich statt und finden ihren Abschluss in öffentlichen Konzerten. Die Werke der norwegischen Komponisten erscheinen mir gut gemacht, aber etwas konventionell.
In den Dirigierstunden ohne Chor geht Grete Pedersen aber ungewöhnliche Wege. Sie sucht intuitive und kreative Zugänge zur Lösung von musikalischen, schlagtechnischen oder körperlichen Problemen. Die Dirigenten kriechen in Zeitlupe am Boden, um ein Gefühl für langsame Bewegungen zu bekommen. Sie dirigieren, ohne die Arme zu benutzen und spielen Schlagzeug auf einem alten Notenständer. Mentale oder körperliche Blockaden werden hier auf höchst originelle und einfühlsame Weise überwunden.
An der Musikhochschule in Oslo treffen ich Lasse Thoresen, Professor für Komposition. Thoresen hat in Oslo, Utrecht und Paris studiert. Seine Werke sind vielfach prämiert und von „Det Norske Solistkor“ (Grete Pedersen) sowie dem Latvian Radio Choir eingespielt worden. Elektroakustische Forschungsprojekte und Buchveröffentlichungen weisen ihn als einen scharfen Analytiker und Theoretiker aus.
Beim Hören der Chorstücke in Vorbereitung auf das Interview kann ich mich ihrer Sogwirkung und Faszination nicht entziehen. Die Musik scheint nicht von dieser Welt zu stammen, sondern aus einem unendlichen kosmischen Atem geboren zu sein. Melodische und harmonische Strukturen entwickeln sich über große Zeiträume hinweg, Akkordüberblendungen entstehen überraschend, massive Klanggebirge türmen sich auf, Vierteltöne erzeugen Spannungen, Obertongesang und Themen aus traditioneller Folkmusik entführen in eine Art magischer Weltmusik. Mir fällt der Begriff „Vokalsinfonie“ ein und ich muss gestehen, derartiges nie zuvor gehört zu haben. Mein kritischer mitteleuropäischer Musikgeschmack und intellektueller Anspruch sind auf den Plan gerufen.
Anne Kohler: Herr Thoresen, wie kommt es, dass man beim Hören Ihrer Musik meint, zugleich etwas Uraltes und doch überraschend Neues zu erleben?
Lasse Thoresen: Musik muss immer organisch wirken und den Gesetzen der Natur und der menschlichen Auffassungsgabe folgen? Wir sollten die Erfahrungen und Erkenntnisse der alten Musik nicht missachten. Man kann feststellen, dass die Musiktheorie des letzten Jahrhunderts sich ausschließlich mit der linken Hand des Geigers beschäftigt hat. Die rechte Hand aber, die den Klang erzeugt, den Grad an Energie bestimmt und dem Klang Körperlichkeit verleiht, ist aus dem Blickfeld geraten. Kompositionen für die menschliche Stimme sind prädestiniert, diese sinnlichen Quellen wiederzufinden. Noten auf dem Papier sind nicht einfach Punkte, die Intervalle bilden. Sie erhalten durch die Beziehungen untereinander verschiedene Spannungsenergien und mentale Zustände. Jeder Moment ist mit dem davor und danach verbunden.
Kohler: Was ist Ihr Ziel? Wollen Sie alte Traditionen komponierend wiederbeleben?
Thoresen: Auf der Basis von detaillierten strukturellen Analysen vieler musikalischer Parameter habe ich Musik der Klassik und Romantik erforscht. Beim Schreiben versuche ich, diese Erkenntnisse zu respektieren, aber intuitiv mit Klängen und Obertonspektren umzugehen. Intuition kann nur auf der Basis von Hörgewohnheit entstehen. Das westliche Intonationssystem ist eine spezielle Sache: Wir kamen von der reinen Diatonik, sind über die Romantik mit der Chromatisierung zur Zwölf-Tonmusik fortgeschritten. Da war die expressive Qualität des Intervalls an sich eliminiert. Zu viel Information für den Hörer bewirkte eine Art Überforderung des Ohrs. Zu große Komplexität in der kompositorischen Struktur bewirkt für den Hörer eine Art Anonymität, in der er sich nicht mehr auskennt. Meine Arbeit mit Obertonstrukturen, Mikrointervallen und Transkriptionen aus der Folkmusik möchte neue Klassifizierungen von Intervallen generieren und eine Art „organisch-energetischer Architektur“ in der Musik erschaffen.
Helsinki/Finnland
Zehn Chorleitungs-Studierende (Bachelor und Master) werden morgens in der Gruppe von Nils Schweckendiek an der Sibelius-Akademie unterrichtet. Sie stammen aus verschiedenen europäischen Ländern, weswegen der Unterricht auf Englisch stattfindet. Am Anfang stehen Bewegungsübungen, später werden Stellen aus Stücken dirigiert. In schnellem Wechsel stehen einzelne Dirigentinnen und Dirigenten vor der Gruppe, bekommen Aufgabenstellungen, werden korrigiert, dirigieren erneut. Zwei Stunden Unterricht ohne Pause verfliegen im Handumdrehen. Es wird viel gelacht und gewitzelt.
Mittags besuchen alle Dirigenten die Probe des 16-köpfigen Profi-Ensembles, welches den Studierenden zwei- mal pro Woche für drei Stunden zur Verfügung steht. De facto bedeutet dies wöchentlich sechs Stunden Arbeit mit einem Profichor. Auf dem Programm steht „Vigilia“ von Einojuhani Rautavaara, ein 80-minütiges A-capella-Werk für Chor und 4 Solisten. Orientiert an der Liturgie der orthodoxen Kirche schrieb Rautavaara in finnischer Sprache Anfang der 1970er-Jahre Musik für Abend- und Morgengottesdienst im Auftrag des Helsinki-Festivals. Später arbeitete er die zur rein liturgischen Verwendung gedachten Vespern zu einem monumentalen Konzertwerk um, das hohe Ansprüche an die Ausführenden stellt. Viele Taktwechsel, extreme Lagen in Bass und Sopran und der Umgang mit Mikrotonalität in den solistischen Passagen fordern Chor und Solisten heraus. Das Ensemble benötigt lediglich vier Proben, um das Werk konzertreif hinzustellen.
Alle Dirigentinnen und Dirigenten gehen mit diesem „Mercedes“ unter den Übungschören gekonnt um. Der Wechsel zwischen Arbeit an großen zusammenhängenden Passagen und Perfektionierung einzelner Details geht schnell vor sich. Schweckendiek greift ein, wenn Dirigenten sich an Einzelheiten festbeißen und den Chor nicht permanent durch konsequente Probenstruktur voranbringen. Ich wundere mich über den voluminösen und kraftvollen Klang des Chores. Noch nie habe ich ein relativ kleines Ensemble derartig körperliche und klangvolle Akkorde produzieren hören. Nicht alles wirkt von Anfang an perfekt intoniert, aber immer singen die Stimmen vibratoarm und auf dem natürlichen Atemfluss geführt.
Das von den Studierenden dirigierte Abschluss-Konzert vor großem Publikum gerät zu einem musikalischen Höhepunkt des Studienjahres. Die Witwe von Einojuhani Rautavaara, der im Sommer 2016 verstarb, sitzt im Publikum und verfolgt das Konzert mit höchster Spannung. In der Pause kommen wir ins Gespräch: „Sind Sie je in einer orthodoxen Messe gewesen?“ Diese Frage muss ich leider verneinen. „Gehen Sie hin – heute Abend um 18 Uhr in der Uspenski-Kathedrale können Sie erleben, woher diese Musik kommt.“
Ich zögere nicht und lenke meine Schritte durch das dunkle Hafengebiet zu der erhöht liegenden Kathedrale. Viele Stufen muss ich erklimmen, um in das Innere der mit hunderten von Kerzen beleuchteten Kirche zu kommen. Wände strahlen in warmem Gold, Ikonen werden geküsst, Heiligtümer geehrt, die Luft mit Weihrauch geschwängert. Über zwei Stunden dauert die Messe, welche die Gemeinde im Stehen verbringt. Ein Chor, bestehend aus vier Sängern, untermalt fast ohne Unterbrechung das rituelle Geschehen in Form von Psalmen und orthodoxen Gesängen. Trunken von der schlichten Schönheit der Musik wanke ich durch die Dunkelheit zum Hotel.