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Offene Werkgestalt, erweiterte Autorschaft: Bruno Maderna (1920–1973). Foto: Casa Ricordi
Offene Werkgestalt, erweiterte Autorschaft: Bruno Maderna (1920–1973). Foto: Casa Ricordi
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So könnte sie klingen, unsere Musik der Zeit

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Zum 100. Geburtstag des Komponisten und Dirigenten Bruno Maderna
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Vom Werk wollte er nicht lassen – nur anders als offen konnte er es sich nicht vorstellen. Am Autor hat er festgehalten – nur weit wollte er ihn verstanden wissen. Kunst und Musik waren ihm Lebenselexier – nur dass es ihm unvorstellbar war, sie romantisierend zu überhöhen, sie einzuschließen in bürgerliche Innigkeit. Was auch nicht gepasst hätte zum unehelichen Sohn eines Unterhaltungsmusikers, als der Bruno Maderna am 21. April 1920 in Sant’Anna di Chioggia bei Venedig zur Welt kommt.

Früh drückt ihm der Vater eine Geige in die Hand. Bruno Grossato – später wird er den Namen der Mutter annehmen – lernt schnell, wird als bambino prodigio, als Wunderkind die Attraktion in der „Happy Grossato Company Band“, die Hotels, Bars, Cabarets bespielt, Bruno Madernas erste Podien. Das Musikantische dieser 1930er Jahre wird Spuren hinterlassen, wird bleiben auch als er das Milieu selbst längst verlassen hat. Im Musiker wird der Komponist Bruno Maderna heranwachsen, derjenige, der später, nachdem er ab 1948 durch die Scherchen-Schule geht, den strengen Darmstädter Serialismus anzureichern versteht mit diesem madernitischen Quantum Traumsubstanz, das uns an seiner Musik bis heute berührt, weil wir spüren, dass wir in ihr einem Künstler begegnen, der auf eine elementare Weise frei gewesen ist – frei von den Szene-Komplexen, ihren skandalösen Berührungsängsten, frei von der Pseudowahrheit, wonach Konsequenz in der Kunst angeblich das Höchste sei. Hat Bruno Maderna einfach nicht geglaubt. „Ich hasse es, konsequent zu sein, denn das ist tödlich“, hat er gemeint und den Poeta in ihm sprachmächtig gehalten.

Fragt man Weggefährten, Musiker, die ihn gekannt, geschätzt haben, ist immer wieder die Rede vom Charme, mit dem Bruno Maderna seine Umgebung bezaubert hat, kraft dessen ihm noch die renitentesten Orchestermusiker gefolgt sind auf seinen Exkursen. Auch werden sie gespürt haben, diese Liebe zur Musik, die sich Maderna nicht anders als weit und offen denken konnte, die, wie Scherchen, vom Barock bis zum Zeitgenössischen reichte, vor nichts Halt machte, Tabus, Denkverbote nicht kannte, gegebenenfalls bereit war, sie über Bord zu werfen, sofort. Eine der schönsten Bruno Maderna-Anekdoten handelt davon: Einmal soll er einspringen für einen verhinderten Kollegen und Sibelius dirigieren, einen Komponisten, den er nicht mochte. Maderna sagt trotzdem zu. Im Ergebnis, wird erzählt, habe man noch nie so schön Sibelius musizieren gehört!

Vor einem Orchester zu stehen, wird ihm sehr früh zur zweiten Natur. Als Zwölfjähriger dirigiert er das Scala-Orchester, andere Opernorchester Nord­italiens, nimmt in Mailand Kompositionsunterricht bei Arrigo Pedrollo, in Rom bei Alessandro Bustini, diplomiert 1940, absolviert in den Folgejahren weiterführende Kompositionsstudien bei Gian Francesco Malipiero in Venedig, wird zur Armee eingezogen, schließt sich gegen Kriegsende antifaschistischen Partisanen an und hat im Mai 1945, 25 Jahre jung, ersichtlich beide Schulen durchlaufen, die akademische und die des Lebens. Mit am Ende 53 Jahren währt Letzteres allzu kurz – seine Kunst hingegen gerät um so länger. Als Bruno Maderna am 13. November 1973 in Darmstadt stirbt, wo man ihn denn auch begraben wird, hinterlässt er ein stattliches kompositorisches und diskographisches Œuv­re. Viel zu wenig ist davon in Umlauf. Immerhin, es gibt die Anstrengungen des Münchner Labels NEOS, Madernas Orchesterwerk neu publik zu machen.

Und, um auch dies (das italienische, das venezianische BM-Erbgut) nicht außen vor zu lassen: Als einer der wenigen Parteigänger der internationalen Darmstadt-Nachkriegsszene bleibt Bruno Maderna, wie Luciano Berio, wie Luigi Nono, dem Musiktheater verschrieben – bei maximaler Dis­tanz zum Musikdrama, zur Literatur­oper. Die offene Werkgestalt, die erweiterte Autorschaft, der in Kunst, in Musik sich artikulierende Geist als politischer Geist – all dies hat Bruno Maderna beseelt, hat ihn auch in Sachen Teatro musicale angetrieben zu Neuem, zu Unbekanntem. Die Bühnenfassungen, die seinem „Hyperion – Lirica in forma di spettacolo“, diesem „Gedicht in Form eines Schauspiels“, zu Lebzeiten zuteil geworden sind, lesen sich wie ein Lehrstück dazu.

Dramatische Aktion: „Hyperion“

Für die „Hyperion“-Uraufführung 1964 am Teatro la Fenice arrangiert er gemeinsam mit Regisseur Virginio Puecher aus existierenden Werken, Werkteilen, aus ein paar Hölderlin-Sätzen, aus Phonemen von Hans G. Helms ein „Stück“ als „dramatische Aktion“, in der ein Flötist – Severino Gazzelloni – ein expressives Solo auszuführen versucht, behindert, bedrängt wird erst durch das Erscheinen eines sich über ihn senkenden Käfigs, dann durch eine Art Monstermaschine, bis schließlich Catherine Gayer „Aria“ für Sopran und Orchester zur Ausführung bringt. Vier Jahre später, im Mai 1968 kommt es zu einer dezidiert politischen Lesart am Brüsseler Theatre de la Monnaie, wo der flämische Dichter Hugo Claus unter der unmissverständlichen Überschrift „Hyperion und die Gewalt“ ein an den Vietnamkrieg gemahnendes Dekor aus Soldaten und siegreichen Ratten zusammenstellt. Eine Fassung, die Madernas Zustimmung findet. Schließlich, nur zwei Monate später, arrangiert Maderna seinerseits für eine „Hyperion“-Aufführung im Palazzo Bentivoglio in Bologna eine Version, in der er die fünf Szenen der venezianischen Uraufführung verschränkt mit den fünf Intermedien aus der 1616 entstandenen Barockoper „Orfeo dolente“ des Domenico Belli. – „Hyperion“ aus dem Geist der Montage.

Apropos. Die parallele Gültigkeit sämtlicher Kreationsstufen – nichts anderes hat ja die Frankfurter Hölderlin-Ausgabe enthüllt, spektakulär 1975 gestartet, zwei Jahre nach Madernas Tod, was zur Frage führt, inwiefern diese Wende der Hölderlin-Rezeption nicht auch eine noch unentdeckte Vorgeschichte hat? Wie steht es mit den „Verfahrungsweisen des poetischen Geistes“? Hier der arme Poet, der in die Zwischenräume seiner Gedicht-Reinschriften zahlreiche Textrevisionen einträgt, ohne doch die Ursprungsversion zu tilgen – dort der Komponist, der seinen „Hyperion“ binnen vier Jahren drei Mal unterschiedlich arrangiert, autorisiert. Das Konzept „letzter Hand“, diese heilige Kuh einer erstarrten Literatur- und Musikwissenschaft, ist verabschiedet. Was Unsicherheiten bringt, ganz klar. Andererseits ließe sich das Anarchische nicht länger als Verhinderung von Verbindlichkeit, sondern, auch dank Maderna, als Ermöglichung neuer Freiheit verstehen.

Vielleicht ist es ja so, dass Maderna sich deshalb so traumwandlerisch in die wechselnden Abenteuer des Umtextierens, Arrangierens, Montierens stürzen konnte, weil sein Material in allen seinen Teilen die zentrale Botschaft seiner Kunst transportiert. Nebenbei bemerkt, ein ziemlicher Glücksfall für den Maderna-Hörer, kann er doch einsteigen, wo immer er will – stets trifft er auf den ganzen Maderna. Wie neulich, als uns der jüngste Zyklus „Musik der Zeit“ beim Westdeutschen Rundfunk eine kleine Maderna-Offenbarung bescherte, freilich, soviel sei kritisch angemerkt, in einem Umfeld aktuellen Komponierens, das demgegenüber eigentümlich blass blieb, als ginge es immer nur darum, ein irgendwie feststehendes Idiom namens Neue Musik zu bedienen, nach rechts, nach links zu schielen: Was machen die anderen? – Auch davon war Maderna frei. Er sei „wiederzuentdecken“, hieß es in der Begrüßung von WDR-Moderatorin Martina Seeber.

Man konnte dem nur zustimmen. Und war am Ende dieser Maderna-Hommage mit einem wunderbar musizierenden WDR-Sinfonieorchester doch vom Gefühl beschlichen, dass uns ein vollständig wiederentdeckter Maderna an der aktuellen Musik zweifeln, um nicht zu sagen, verzweifeln lassen könnte.
Als ob ein Vorhang hochging, begegneten wir dem Zarten, Zerbrechlichen einer „Musica su due dimensioni“ für Flöte und Tonband aus dem Jahr 1958: die Premiere für diese Besetzung. Ein Stück ohne Taktteilungen, ohne Zeitangaben, mit Wahlfreiheiten für den Solisten: eine Premiere fürs Experiment offene Form. Michael Faust kommunizierte mit der Elektronik wie in einem Konzert Alter Musik.

Der umsichtige Forscher

Dann „Aura“ für großes Orchester – ein Spätwerk aus dem Jahr 1972, das eine eigentümliche Erinnerungshaltung einnimmt als ob es sich noch einmal seiner Grundlagen, seiner Herkunft versichern wollte. Der Komponist wie ein umsichtiger Forscher im Labor, der die Substanzen trennt, um sie besser in den Blick nehmen zu können. Streicher, Holz-, Blechbläser, überreichlich Perkussion und dann doch wieder die einsame Soloflöte am Schluss. Il poeta parla! sagt Maderna.

Und schließlich „Stele per Diotima“, die ausgedehnteste Zelle aus dem gro­ßen „Hyperion“-Geflecht. Ein Stück „für Kammerorchester“, womit Maderna augenzwinkernd auf die genehme Art, zu musizieren anzuspielen schien. In Wahrheit kam dieser auskomponierte Grabstein als Riesenaufgebot daher, beschäftigte neben Celesta allein zwei Klaviere, drei Harfen, ein knappes Dutzend Schlagzeuger. Was freilich folgte, war die Entdeckung, dass der Komponist offenkundig noch eine Rechnung offen hatte. So einfach sollte der Bolide nicht davonkommen! Selbstbewusst hatte das Kraftpaket im Klaus von Bismarck-Saal Aufstellung genommen, sah das Startzeichen und – kam nicht vom Fleck.

Die Unisono-Schläge, die Michael Wendeberg bei extrem gedehnten Pausen dem Orchester entlockte, verhallten im Nichts. Minutenlang Holz auf Holz, Metall an Metall, Luft gepresst durch Trichter, Bögen, die sich in die Saiten drückten. Eine Masse, ein zwanghaftes Macht-Kollektiv, das an sich selbst erstickt. Grimmig funkelte die kompositorische Intelligenz. Wie jetzt weiter? – Ein Zeichen der Regie und wieder erschien der Poet, um den Bann zu brechen. Silbrig glänzend löste sich auf einmal eine Stimme aus dem Amorphen, die Geige von Slava Chestiglazov, dem ersten Konzertmeister. So wie vorher das Wabern, Hauen, Schlagen kein Ende zu nehmen schien, so strahlte jetzt dieses Geigensolo unangefochten, unbehelligt über allem, ging einfach immer weiter, hörte auch nicht auf als sich die Bläser solistisch einmischten, animiert vom Träumerischen der Linien, dem Werben, dem Bitten des Instruments, mit dem Bruno Maderna einst in die Musik eingetreten war. Andere kamen hinzu, fassten Mut, führten fort. So als ob jetzt jeder, befreit vom Zwang kollektiver Eintönigkeit, an dieser letzten Liebeserklärung, die man machen kann, mitschreiben wollte.

Hör-Hinweis: „Stele per Diotima” mit dem WDR-Sinfonieorchester ist auf Youtube nachhörbar.

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