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Sport, Technik, Jazz und mährische Kadenzen

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Bohuslav Martinu aus der Sicht der Zeitgenossen und der Gegenwart
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Im Konzertsaal ist der Komponist Bohuslav Martinu etwas in Vergessenheit geraten. Das Feature von Klaus Meyer versucht ein Bild aus heutiger Sicht vom Menschen, Musiker und Pädagogen Martinu zu zeichnen. Die nmz befragte dazu auch Zeitzeugen. Auch das Festival Europalia in Brüssel widmet am 7. und 8. Dezember dem Komponisten und seinem Umfeld ein Symposium mit Meisterkurs, Konzerten, Ausstellung und Dokumentationsfilm. In Tschechien gehört er zu den meistgespielten Komponisten. Im Musikleben hierzulande spielt er indes eine kaum nennenswerte Rolle. Für das breite Publikum in Deutschland ist Bohuslav Martinu nach wie vor ein Unbekannter – einer, den es erst noch zu entdecken gilt. Dabei stellt seine Musik keine größeren Rezeptionsprobleme als etwa die von Prokofieff, Schostakowitsch oder Aaron Copland. Es ist eine ungeheuer vitale, vielfach motorisch geprägte Musik, eine Musik, in der es gleichsam ständig vorwärts geht. Der Swing des amerikanischen Ragtime und Jazz, ein am geschmeidigen „Sound“ des französisch-impressionistischen „Style debussyste“ kultivierter Klangsinn, verbinden sich in ihr mit Intonationen der böhmisch-mährischen Musik zu einer funkensprühenden kosmopolitischen Mixtur, die gleichwohl immer ihre Herkunft zu erkennen gibt. Denn Martinu steht fest verwurzelt in der großen Tradition der Nationalen Schule seiner Heimat. Nach Bedrich Smetana, Antonín Dvorák und Leoš Janácek war er der vierte und letzte tschechische Nationalklassiker, mithin der unumstritten größte Komponist seines Landes im 20. Jahrhundert. Zugleich war Martinu einer der produktivsten und vielseitigsten Komponisten unseres Jahrhunderts. In seiner Generation erscheint er darin nur vergleichbar mit dem fast gleichaltrigen Darius Milhaud. Der Katalog, den Harry Halbreich Ende der sechziger Jahre von Martinus Œuvre im Halbreich-Verzeichnis (H) veröffentlichte, listet 387 Werke fast aller Formen und Gattungen, Funktionen und Genres auf. Zeitzeuge Boris Rybka Boris Rybka, Sohn des mit Martinu befreudeten tschechischen Cellisten und Organisten Frank Rybka: Ich erinnere mich, wie ich eines morgens ihn beobachtete, als er alleine dasaß, unbeweglich, fast katatonisch, abgesehen von gelegentlichen Zügen an seiner Zigarette. Dann, urplötzlich, ging er an seinen Schreibtisch und schrieb eine ganze Flut von Noten nieder, so, als sei plötzlich ein Damm gebrochen. Dieser Mann war ein Genie in der Fähigkeit, mehrere Werke gleichzeitig auszuarbeiten. Sein Drang zu komponieren war kompulsiv. Sogar wenn er nicht tatsächlich komponierte, komponierte er im Hinterkopf. Erschienen sind Martinus Werke bei sechzehn verschiedenen Verlagen, verstreut in sechs Ländern auf drei Erdteilen. Denn das Getrieben-Sein gehörte fast von Anfang an zu Martinus ruheloser abenteuerlicher Existenz. Böhmen und Frankreich waren vor dem Zweiten Weltkrieg seine Lebensstationen, dann die USA und in der Nachkriegszeit erneut Frankreich, aber auch Belgien, Holland, Italien und schließlich die Schweiz, wo Martinu 1959 in Liestal bei Basel starb. Sein Lebensmittelpunkt blieb dennoch immer seine tschechische Heimat, wenngleich in seinen letzten beiden Lebensjahrzehnten nur noch in spiritueller Hinsicht. Denn nach dem Sommer 1938 sollte er sie nicht mehr wiedersehen. Geboren wurde Martinu am 8. Dezember 1890, und zwar gewissermaßen als der „höchstgeborene“ Komponist der Musikgeschichte. Denn er kam fast vierzig Meter über dem Erdboden zur Welt – in der Turmwohnung der stattlichen St. Jakobskirche von Policka, wo Martinus Vater neben seiner eigentlichen Profession des Schusters auch die des Turm- und Feuerwächters versah. Policka liegt auf halbem Weg zwischen Prag und Brünn, unmittelbar an der Grenze zwischen Böhmen und Mähren. Zwanzig Kilometer nördlich von Policka liegt Litomyšl, Geburtsstadt von Smetana, achtzig Kilometer südwestlich Kalište, wo 1860 Gustav Mahler zur Welt kam. Trotz des pittoresken Ambientes und der musikgeschichtsträchtigen Gegend, in der Policka liegt, war und ist das Städtchen Provinz. So nimmt es nicht Wunder, daß Martinu schon bald anderes erstrebte. Nachdem er im Violinunterricht beachtliche Fortschritte gemacht hatte, erhielt er vom Stadtrat seiner Heimatgemeinde ein Stipendium und ging im Herbst 1906 nach Prag. Der scheue sechzehnjährige Martinu kam nun erstmals mit dem hektischen, temporeichen Leben in einer international geprägten Metropole in Berührung. Und er erlebte zum ersten Mal die ganze vitale Vielfalt eines weltstädtischen Musiklebens. In jenen ersten Prager Jahren ging Martinu jeden Tag in ein Konzert, ins Theater oder in die Oper, und er „verschlang“ ungeheure Massen von Literatur. Nur nebenbei ging er dem eigentlichen Zweck seines Prag-Aufenthaltes nach: dem Studium am Konservatorium, von dem er allerdings im Juni 1910 verwiesen wurde – wegen „unverbesserlicher Nachlässigkeit“, wie es hieß. Immerhin erwarb Martinu das staatliche Diplom für Violinlehrer, das ihm erlaubte sich in Policka während des Ersten Weltkrieges seinen Lebensunterhalt zu verdingen. Nachdem Martinu bereits 1913 gelegentliche Aushilfsdienste in der Tschechischen Philharmonie geleistet hatte, wurde er 1920 Mitglied des tschechischen Eliteorchesters, wirkte bei vielen Prager Erstaufführungen neuerer französischer Musik unter Vaclav Talich mit. Für Martinu war das Erlebnis der Musik von Debussy, Ravel, Dukas und Albert Roussel eine Offenbarung und bestärkte ihn in seinem Bestreben, nach Paris zu gehen. Ein Stipendium des tschechischen Unterrichtsministeriums ermöglichte die Übersiedlung an die Seine. Zeitzeuge Max Kellerhals Max Kellerhals, Kaplan von Martinus Hochzeit und Trauermesse: Als 33jähriger zog Bohuslav in die Weltstadt Paris...sie hat ihn in seiner allseitigen Heimatverbundenheit mehr bestätigt als verwirrt. Das Paris, in das Martinu Ende 1923 kam, galt als neues Mekka der Kunst im allgemeinen und der Musik im besonderen. Hier hatte sich kurz zuvor unter der Ägide von Jean Cocteau und Erik Satie die Komponistengruppe „Les Six“ formiert. Hier lebten und wirkten Ravel, Prokofieff, Strawinsky und Roussel, zu dem Martinu bald eine herzliche Freundschaft entwickelte. „Was ich bei ihm suchte“, schrieb Martinu über Roussel, „war Ordnung, Klarheit, Maß, Geschmack, genauen, empfindsamen und unmittelbaren Ausdruck: kurzum, die Vorzüge der französischen Kunst, die ich stets bewundert habe.“ Wie viele seiner prominenten Zeitgenossen gab sich Martinu zunächst gleichwohl die Attitüde des Bürgerschrecks, kultivierte einen herben, stark dissonant und motorisch geprägten Stil und erprobte neue antiromantische Sujets und antiwagnerische Ausdrucksmittel. So huldigte er der neuen Technik- und Sportbegeisterung jener Jahre wie Arthur Honegger mit gleich zwei flamboyanten Orchesterwerken. 1924 entstand das durch den Fußball inspirierte Orchester-Rondo „Half-Time“ (Halbzeit), das bei seiner Prager Uraufführung im selben Jahr einen veritablen Skandal auslöste. 1926 folgte „La Bagarre“ (Das Getümmel), ein symphonischer Satz, der die Aufregung und Begeisterung der Menge auf dem Pariser Flugfeld Le Bourget schildert, als Charles Lindbergh nach seinem Ozeanflug landete. Zeitzeuge David Diamond David Diamond, amerikanischer Komponist, erinnert sich: Er war ein hervorragender Künstler und wie alle Schüler Roussels ein großer Meister im Orchestrieren. Die nächsten Jahre in Paris bringen eine reiche schöpferische Ernte. Allein zwischen 1927 und 1932 komponiert Martinu siebzig neue Werke der verschiedensten Formen und Gattungen. Auch eine Reihe Jazz-beeinflußter Werke finden sich darunter. Hinzu kommen viele Kammermusikwerke für diverse Instrumentalkombinationen, Klavierstücke, Solokonzerte und Opern, darunter Martinus bedeutendste Vorkriegsoper überhaupt: „Julietta“, nach dem gleichnamigen Bühnenstück des französischen Dramatikers Georges Neveux. Als die deutsche Wehrmacht Anfang Juni 1940 vor Paris steht, entschließt sich Martinu zur Flucht. Wird er doch von den Nationalsozialisten als „Résitant“ und Anhänger der Londoner Beneš-Regierung auf einer „schwarzen Liste“ geführt. Mit seiner Frau, der Französin Charlotte Quennehen, die er 1931 in Paris geheiratet hatte, reist er über Limoges nach Aix-en-Provence. Bis Januar 1941 müssen die Martinus dort auf eine Ausreisegenehmigung der Vichy-Regierung warten. Über Spanien gelangt das Paar nach Lissabon und schifft sich am 21. März 1941 nach New York ein. Boris Rybka über diese Zeit: „In den USA kam Martinu außerordentlich gut an. In der Tat hatte er so viele Uraufführungen, daß zwei sogar am selben Tag stattfanden. Am 28. Oktober 1943 präsentierten die New Yorker Philharmoniker zum ersten Mal seinen „Pamatnik Lidicim“ (Mahnmal für Lidice) und das Cleveland Symphony Orchestra seine Zweite Symphonie.“ Seine Zeit in den USA, die von 1941 bis 1953 dauern sollte, verbrachte Martinu an der amerikanischen Ostküste, vornehmlich in New York, auf Martha’s Vineyard und Jamaica auf Long Island, in Connecticut und Massachusetts. Als Komponist erschließt er sich neues Terrain: die Symphonie. Von 1942 an entsteht nun bis 1946 in kontinuierlicher Folge jedes Jahr ein Werk dieser Gattung. Alle gehören dem Typus der neoromantisch-populistischen „Weltanschauungssymphonie“ an, die in jenen Jahren prominent vertreten wurde von einer Vielzahl US-amerikanischer Symphoniker mit Roy Harris, William Schuman und Aaron Copland an der Spitze, zudem von Prokofieff und vor allem Schostakowitsch in der UdSSR. Zeitzeuge H. Owen Reed H.Owen Reed, amerikanischer Komponist und Universitätsmusiklehrer, Schüler Martinus in Tanglewood: Schnell lernte ich sein Wissen von der zeitgenössischen Musik zu schätzen genauso wie seinen Eifer, dieses Wissen an mich und die anderen in seiner Kompositionsklasse weiterzu-geben...Martinu ermutigte mich, meine Technik durch die Verwendung von mehr der verfügbaren zwölf Töne zu erweitern. Stark beeindruckt war ich von seinem „Concerto grosso“, das unter der Stabführung Serge Koussevitzkys uraufgeführt worden war. Zweifellos wurde ich von diesem Werk beeinflußt. Martinu selbst war beschäftigt mit der Arbeit an seiner Ersten Symphonie, die eine deutliche Abkehr von seinem neoklassizistischen Stil markierte. Ich erinnere mich, wie ihn einer der Studenten nach seiner Themenverarbeitung fragte und er lapidar antwortete: „Ich arbeite nicht mit Themen in meiner Musik!“ Martinus Symphonien bestätigen einen Trend, der sich schon in den Werken seiner späten Pariser Jahre bemerkbar gemacht hatte: seine Musik wird mehr und mehr tschechisch. Martinu erweist sich nun als der wahre Erbe Smetanas, Dvoráks und Janáceks. Gehäuft tritt nun auch in seinen Werken eine Wendung auf, die zu den auffälligsten Merkmalen seiner Tonsprache gehört. Es ist die sogenannte „Mährische Kadenz“, eine Akkordverbindung so neu, frisch, einprägsam und unverwechselbar wie seinerzeit der „Tristan“-Akkord Wagners, der „Mystische Akkord“ Skrjabins oder der „Petruschka“-Akkord Strawinskys. Das Phänomen der „Mährischen Kadenz“ beschreiben Theoretiker als einen Dominantseptakkord ohne Quint, aber mit vorgehaltener Sext, der sich nicht in die Tonika, sondern in die Doppeldominante auflöst. Martinu entnahm die klanglich überaus charakteristische Wendung Leoš Janáceks Orchester-Rhapsodie „Taras Bulba“, die – vollendet unter dem Eindruck der Proklamation der unabhängigen Republik Tschechoslowakei am 28. Oktober 1918 – nichts anderes darstellt als eine Glorifizierung der neuen tschechischen Eigenstaatlichkeit. Hope Castagnola Bogorad Hope Castagnola Bogorad, deren Eltern 1941 ein Apartment in Jamaica, Long Island, an die Martinus vermieteten: Martinu war ein sehr leise sprechender, zurückhaltender Mann. Er war groß und schlank. Sein schütteres Haar war über seiner hohen Stirn zurückgekämmt. Seine Augen waren von blasser Farbe. Er war sehr unglücklich über die politische Lage in seiner Heimat, und er war mit vielen berühmten Landsleuten befreundet, die ebenfalls in den USA Zuflucht gefunden hatten. Im September 1945 erreichte Martinu aus dem mittlerweile befreiten Prag die Berufung an das dortige Konservatorium als Kompositionslehrer. Martinu wollte annehmen, doch verhinderte ein tragischer Unfall die Rückkehr nach Europa. In Great Barrington, in der Nähe von Tanglewood, wo er ein Kompositionsseminar leiten sollte, stürzte er schwer. Als er sich davon erholt hatte, trat das Prager Konservatorium erneut an ihn heran. Doch nun war in Prag die Tschechische Kommunistische Partei an der Macht. Martinu hatte den Nationalsozialismus abgelehnt und wollte auch nichts mit einem Stalinistischen Regime zu tun haben. 1953 kehrte er zwar endgültig nach Europa zurück, aber tschechoslowakischen Boden sollte er nicht mehr betreten. Seine letzten Lebensjahre zeigen Martinu hin- und hergerissen zwischen Frankreich, Belgien, Italien und der Schweiz, wo er in engem Kontakt zu Paul Sacher, dem großen Mäzen und legendären Gründer und Leiter des Basler Kammerorchesters, stand. Martinus Schaffenskraft war ungebrochen. Neben der Sechsten Symphonie und anderen Orchesterwerken entstanden das wuchtige Oratorium „Gilgamesch“ und die große Oper „Die griechische Passion“. Martinus bestimmendes Lebensgefühl blieb indes ein bohrendes Heimweh und eine brennende Sehnsucht nach Policka. Doch auch wenn er die Stadt nicht mehr sah, so unternahm er doch in seiner Musik immer wieder gleichsam spirituelle Reisen dorthin. So komponierte Martinu im Juli 1955, vier Jahr vor seinem Tod, eine kleine Kantate nach Worten von Miloslav Bureš, einem Dichter aus Policka. Das Stück heißt „Otvírání Studánek“ (Das Öffnen der Brünnlein) und trägt die Widmung „An Miloslav Bureš und an unsere Landschaft“. Das Stück ist ein einzigartiges Dokument für Martinus tiefe menschliche und künstlerische Verwurzelung in der böhmisch-mährischen Kultur und Landschaft, und es zeugt von einer unglaublichen Schlichtheit im Kern seiner Musik in ihrer letzten und reifsten Form. Am Ende beschwört der Bariton die verlorene Kindheit und den Weg „nach Hause, heim die alte Straße“ – einen Weg, den Martinu freilich nur noch in seiner Musik fand und gehen konnte. „Bohuslav Martinu war nicht nur ein großer, begnadeter Musiker, er war auch ein äußerst liebenswürdiger, sympathischer und bescheidener Mensch.“ So schätzte ihn Margit Weber ein, die Pianistin und Widmungsträgerin seines 5. Klavierkonzerts, „Fantasia concertante“, das sie 1959 in Berlin uraufführte.

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