Der Warschauer Herbst, eines der ältesten und geschichtsträchtigsten europäischen Festivals für Neue Musik, ist immer wieder für überraschende Initiativen gut. In diesem Jahr präsentierte es ein einmalig breites Panorama der iberisch-lateinamerikanischen Musik und, als zweiten großen Schwerpunkt, zwei große Stockhausen-Produktionen.
Think big“ war stets die Devise des vor einem Jahr verstorbenen Karlheinz Stockhausen, und daran hielten sich nun auch die Veranstalter. Der erste der beiden Stockhausen-Abende fand in einer riesigen Sporthalle statt. Zu hören gab es zunächst die 2007 uraufgeführte elektronische Komposition „Cosmic Pulses“ mit ihren schwindellerregend im Raum herumkurvenden Klängen, dann als Hauptstück „Michaels Reise um die Erde“, den halbszenisch aufgeführten zweiten Akt aus „Donnerstag aus Licht“ mit der Musikfabrik Köln unter Peter Rundel. Den Trompete blasenden Bühnenhelden Michael gab es gleich in doppelter Ausführung: mit dem indisponierten, seine Rolle nur mimenden Marco Blaauw und dem konzertant aufspielenden Markus Stockhausen. Mit seiner plakativen Symbolik passte das Stück gut an diesen Ort sportlicher Massenrituale. Stockhausens Musik, die bei allen Längen doch immer konkret-griffig wirkt, und seine zwischen Trivialität und Eigensinn schwankende Bilderwelt haben noch viel ungenutztes Potenzial. Dies vor allem im Hinblick auf ein fachlich unbelastetes Publikum, wie es auch in Warschau stets erstaunlich zahlreich zu den Konzerten aufkreuzt. Mit einem Potpourri der besten Stellen könnten seine Nachlassverwalterinnen dem Werk vermutlich eine popkulturelle Karriere eröffnen.
Visionäre Qualitäten eignen auch der abendfüllenden Komposition „Hymnen“ aus den späten sechziger Jahren. Stockhausen komponierte sie als Tonbandstück in vier „Regionen“ für konkrete und elektronische Klänge; später schrieb er zur dritten Region noch einen Orchestersatz von außerordentlicher Dichte. Das Stück war seinerzeit nicht unumstritten. In der brillanten elektronischen De- und Rekomposition von Nationalhymnen aus aller Welt erblickten viele ein tumbes musikalisches Fähnchenschwenken; das Zitat des „Star-Spangled Banner“ galt in der Zeit des Vietnamkriegs als politisch reaktionär und die hinterhältige Koppelung der bundesdeutschen Hymne mit dem Horst-Wessel-Lied als instinktlos. Doch die Art, wie der naive Querdenker Stockhausen seine Utopie einer brüderlich vereinten Menschheit formulierte und dabei simple Klangsymbole mit den technisch fortgeschrittensten Mitteln seiner Zeit verarbeitete, erwies sich als überaus zeitresistent. Nicht zuletzt im heutigen Europa, diesem nach Robert Kagan postmodernen supranationalen Konstrukt, scheint sein früher Versuch einer neuen Identitätsbildung mit kulturellen Mitteln einen passenden Resonanzraum zu finden. Die Initiative zu dieser monumentalen Aufführung ging von Warschau aus – ein Zeichen für die Virulenz neuer kultureller Ideen in dem aus hiesiger Sicht noch immer leicht argwöhnisch beobachteten „Neuen Europa“. Und indem sich das Festival „Milano Musica“ und die deutsche Stadt Pforzheim dem Projekt anschlossen, erhielt das Projekt sogar eine internationale Ausstrahlung. Falls das retardierende Moment der Brüsseler Kulturbürokratie, wo die nötigen Zusatzsubventionen herkommen, eines Tages auf ein erträgliches Maß reduziert würde, könnte sich aus solchen Formen internationaler Kooperation noch viel kulturpolitisches Brio entwickeln.
Als effizienter Kooperationspartner im aufwendigen Unternehmen erwies sich der Deutsche Musikrat, der mit dem Warschauer Herbstfestival bisher in der „Deutsch-Polnischen Musikwerkstatt“ zusammengearbeitet hat. Für die elektronisch-orchestrale Aufführung der dritten „Hymnen“-Region wurde dieses Nachwuchsensemble nun zu einem Orchester von 51 Mitwirkenden erweitert und – da auch Musiker von Holland bis zur Ukraine mitwirkten – in „European Workshop for Contemporary Music“ umbenannt. Dieser Teil war der unbestrittene Höhepunkt der über zweistündigen Gesamtaufführung, zumal mit dem Dirigenten Pedro Amaral und dem Klangregisseur Bryan Wulf zwei berufene Stockhausen-Fachleute verpflichtet worden waren, die dem Werk zu einer beeindruckenden Wiedergabe verhalfen.
Mit seinem diesjährigen Programm öffnete das Warschauer Festival ein weites Fenster in die Gegenwartsmusik von Spanien und Portugal und ihre Ableger in Lateinamerika. Im riesigen Halbkontinent hat sich die neue Musik allerdings schon längst zu einer völlig eigenständigen, aus vielerlei Quellen gespeisten Kultur entwickelt. Aus dieser ästhetischen Patchwork-Landschaft erklangen in Warschau so unterschiedliche Stücke wie das konzentriert-konzise „Alibi“ für vier Saxophone von Graciela Paraskevaidis, ein Auftragswerk des Warschauer Herbsts, Klavierlieder von Hilda Paredes über Texte von Eduardo Hurtado, aber auch Werke emigrierter Südamerikaner: das Musiktheaterstück „La celda“ von Mesias Maiguashca und Mauricio Kagels „1898“ für (unsichtbaren) Knabenchor und Ensemble, sorgfältig einstudiert von Marco Angius.
Ein imposanter Aufmarsch iberischer Ensembles verlieh den Konzerten eine authentische Note. Pedro Amaral dirigierte in einem Konzert mit dem Sond’Arte Electric Ensemble Werke portugiesischer und spanischer Komponisten, der Dirigent und Komponist Ernest Martínez-Izquierdo trat mit dem Ensemble „Barcelona 216“ auf, das Orchester des Spanischen Rundfunks und Fernsehens gab unter Arturo zwei Konzerte mit Werken unter anderem von Mauricio Sotelo und José Ramon Encinar, mit dem klangfrischen Orchesterstück „Oleada“ von Francesco Guerrero und dem verhalten-dramatischen „Umbra vitae“ des in Köln lebenden Katalanen José Luis de Delás. Mit mehreren Werken kam auch José Maria Sánchez-Verdú zum Zug. Die Breite der Information verlieh dem Festival einen Zug zum Enzyklopädischen, die Konzerte dauerten oft bis weit nach Mitternacht. Wer bereit war, sich täglich acht Stunden auf den Weg zu machen, konnte mit einem dicken Paket neuer Hörerfahrungen nach Hause gehen.