„Wenn ich Aufführungen produzieren würde, die nicht zu Auseinandersetzungen führen würden, würde ich mich gar nicht wohl fühlen. Ich will immer, dass die Kunst provoziert,“ sagt Gerard Mortier, Intendant der RuhrTriennale. Das Festival, dessen erste Saison am 13. Oktober zu Ende ging, hat in der Tat polarisiert. Doch der Intendant lässt sich nicht beirren, Kunst müsse herausfordern, meint Mortier. Und die Aufführungen, die Fehler hatten, seien ihm am liebsten, denn bei einer Aufbau-Arbeit könne nicht alles sofort perfekt sein, „ich verabscheue sogar die Perfektion“.
„Wenn ich Aufführungen produzieren würde, die nicht zu Auseinandersetzungen führen würden, würde ich mich gar nicht wohl fühlen. Ich will immer, dass die Kunst provoziert,“ sagt Gerard Mortier, Intendant der RuhrTriennale. Das Festival, dessen erste Saison am 13. Oktober zu Ende ging, hat in der Tat polarisiert. Doch der Intendant lässt sich nicht beirren, Kunst müsse herausfordern, meint Mortier. Und die Aufführungen, die Fehler hatten, seien ihm am liebsten, denn bei einer Aufbau-Arbeit könne nicht alles sofort perfekt sein, „ich verabscheue sogar die Perfektion“. Die RuhrTriennale, dessen erster dreijähriger Zyklus bis 2004 dauert, startete in diesem Herbst mit 23 Produktionen an 13 Spielstätten, darunter mehr als 10 Konzerte, die Neuinszenierung von Mozarts „Don Giovanni“ (siehe Beitrag von Gerhard Rohde), eine Reihe mit inszenierter Kammermusik, zwei Tanztheater-Projekte sowie mehrere Theateraufführungen (alle mit hohem Musikanteil). Für die meisten der 83 Veranstaltungen wurden Industriedenkmäler genutzt.„Die Stadt Hollywood hat mich belehrt Paradies und Hölle können eine Stadt sein. Für die Mittellosen ist das Paradies die Hölle.“ Bertolt Brecht schrieb diese Zeilen; Hanns Eisler hat sie 1942 vertont, als vierte seiner „Hollywood Elegien“, zentraler Teil des „Hollywooder Liederbuchs“. Eislers Musik zu diesem Text ist zart und hat doch eine ungeheure Ausdrucksstärke. Es ist der Verzweiflungsschrei eines Menschen im Exil. Eine Stimmung, der man eigentlich nur nachspüren müsste, um einen ergreifenden Theaterabend zu gestalten. Nein, die Elegien haben ihm zunächst überhaupt nicht gefallen, sagte der Regisseur Schorsch Kamerun in einem Interview. Leider spürt man das; und so ist aus Eislers wunderbarem „Hollywooder Liederbuch“ nur wenig zu hören. Der Theaterabend unter dem Titel „Hollywood Elegien“ ist ein grellbunter Bilderbogen, der kein Klischee auslässt: von der Westernszene über tanzende Fische und Seepferdchen bis hin zu King Kong und einem im Rollstuhl sitzenden Produzenten, dessen abgeschmackte Gags nicht zünden wollen. Als Kontrast darf die Fassbinder-Muse Irm Hermann als allegorische „Wahrheit“ moralisch sein. Und die Musik? Ein vierköpfiges Kammerensemble begleitet die Mezzosopranistin Ulrike Mayer, von der man gern mehr gehört hätte. Ach ja, Schorsch Kamerun, in seiner Eigenschaft als Sänger der Punkband „Die Goldenen Zitronen“, bekommt auch noch eine kurze Showeinlage.
Ein unausgegorenes Stück, der bespielte Raum allerdings ist eine Entdeckung. Die RuhrTriennale lädt zu den „Hollywood Elegien“ in die ehemalige Salzfabrik der Kokerei Zollverein in Essen. Eine düstere Industriebrache, in der das Publikum über schmale Stiegen in den dritten Stock geführt wird, vorbei an schäbigen Betten, zahlreichen Koffern (das Durchgangslager „Ellis Island“), trostlosen, drahtverhauenen Räumen. Oben die Traumfabrik Hollywood: eine Showtreppe, die raffiniert in den Raum gebaut ist, die überdimensionale Muschel, in der die vier Musikerinnen bequem untergebracht sind, mehrere Ebenen als Spielflächen, eine Wand als Videoprojektionsfläche. Der Raum wurde sinnfällig in die Inszenierung eingebunden.
Ähnlich geschickt agierte das Ensemble ZT Hollandia in dem eigens für die Triennale geschaffenen neuen Theaterraum in der Gebläsehalle im Landschaftspark Duisburg-Nord. Mit Luchino Viscontis „Der Fall der Götter“ wurde die attraktive, vielseitig nutzbare Spielstätte eingeweiht. Ein Raum mit einer Bühne am Kopfende und ansteigenden, hintereinanderliegenden Stuhlreihen für etwa 500 Besucher. Eigentlich ein klassischer Theatersaal, doch mit besonderem Charme, denn im Eingangsbereich der Gebläsehalle befinden sich noch die großen Maschinen. Anfassen erlaubt, ein lebendiges Museum, in dem anspruchsvolle Kunst geboten wird. Auch Christoph Marthalers sparsame szenische Umsetzung von Schönbergs „Pierrot lunaire“ und Messiaens „Quatuor pour la fin du temps“ fand in diesen Räumlichkeiten statt.
Weniger gelungen dagegen der Auftakt des Festivals am 31. August auf Zeche Zollverein in Essen, im Rahmen der Feierlichkeiten zum Weltkulturerbe. Für „Deutschland, deine Lieder“ unter der Regie des Bochumer Schauspiel-Intendanten Matthias Hartmann wurde das Publikum in eine zum Theater umgestaltete, schwarz-verhangene Mehrzweck-Halle gebeten. Man hätte viel Geld sparen können, wäre man gleich ins Bochumer Schauspielhaus gezogen. Dort ist das Stück ohnehin ab Oktober zu sehen.
„Deutschland, deine Lieder“ ist keine Nummernrevue. Albert Ostermaier schrieb den schwermütigen Text, in dem es um die Suche nach der deutschen Identität geht, dazu zählt die Auseinandersetzung mit der Geschichte ebenso wie die mit dem deutschen Liedgut: von Bach bis Silcher, von Mahler bis Rio Reiser. Der Theatermusiker Parviz Mir-Ali zerpflückt die Lieder, arrangiert sie neu, stellt sie in andere Zusammenhänge. Seine Collage ist ein dichtes Klang-Gewebe für einen elfköpfigen A-cappella-Chor; niemals anbiedernd und die eigentliche Stärke dieser Produktion. Die kunstvollen Videoprojektionen als weitere Ebene, bleiben in ihrer Ästhetik eher plakativ.
Mit Videos arbeitete auch Oliver Herrmann, der Franz Schuberts „Winterreise“ in einen Boxring verlegte. Recht beliebige Bilder flimmerten da über die vier Innenwände eines 20 mal 20 Meter großen Holzwürfels, der eigens in die riesige Duisburger Kraftzentrale gebaut wurde. Dafür musikalisch ein Erlebnis: die grandiose Sopranistin Christine Schäfer, einfühlsam von Irvin Gage am Klavier begleitet.
Lieder und Liederzyklen bildeten einen Schwerpunkt der ersten Triennale-Saison, inszenierte Kammermusik in ungewöhnlichen Räumen. Am überzeugendsten gelang dies bei Christoph Marthalers grandioser Deutung von Schuberts Zyklus „Die schöne Müllerin“. Die Koproduktion mit dem Schauspielhaus Zürich gewinnt in der morbiden Atmosphäre des gigantischen Areals des erst seit kurzem zugänglichen Hüttenwerks „Phönix West“ in Dortmund eine neue Dimension.
Die Spielorte der RuhrTriennale „sollen nicht als pittoreskes Ambiente dienen. Es geht vielmehr um Produktionen, für die die Nutzung dieser Räume und Orte künstlerisch Sinn macht.“ So steht es in den Unterlagen der Kultur Ruhr GmbH, dem Träger des Festivals. Ein Anspruch, an dem die Produktionen des Festivals gemessen wurden. In diesem Punkt gab es viel Kritik. Schließlich werden Industriehallen im Ruhrgebiet schon seit Jahren für künstlerische Zwecke benutzt, mit allen Mängeln, die diese Hallen nun mal so haben. Vermutlich waren die Erwartungshaltungen an ein Festival dieser Größenordnung einfach zu hoch.
Gerard Mortier steht hinter der Konzeption. Industrieräume findet er nach wie vor faszinierend. Seine Erfahrungen hätten gezeigt, so der Intendant, dass die Hallen selbst spektakulär genug seien, „was monumental ist, antwortet am Besten auf etwas Intimes“.
In große Hallen, wie die Kraftzentrale im Landschaftspark Duisburg-Nord, baut er kleine Objekte hinein. Deshalb hält er auch die Inszenierung von Schuberts „Winterreise“ für gelungen. Mit Leidenschaft philosophiert Mortier im persönlichen Gespräch über den verlorenen Würfel in der großen Halle, die Menschen auf den Videos, die – wie Schubert – auf der Suche sind, deren Augen aber träumen. An den Visionen des Intendanten ist nicht zu zweifeln.
Auch nicht an seiner klaren Haltung gegenüber dem bisherigen Umgang mit Industriekultur. Die farbige Illumination der gigantischen Industriekulissen in Duisburg und Essen findet er gar nicht gelungen, sondern „viel zu viel Walt Disney.“
Enorme logistische Leistungen waren nötig, die Industriehallen überhaupt spielfertig zu machen. Experimentieren musste man auch mit der Akustik der Räume. Die Duisburger Kraftzentrale (170 m lang, 35 m breit) ist nicht gerade ideal als Konzertsaal, deutlich zu hören beim Abschlusskonzert mit dem Deutschen Sinfonieorchester Berlin unter Kent Nagano. Trotz Schallsegel über dem Orchester und Vorhang war der stark besetzte Rundfunkchor Berlin bei Mozarts „Requiem“ und Schönbergs Oratorium „Die Jakobsleiter“ nicht präsent genug. Darunter litt die Textverständlichkeit.
Die Überakustik in der Maschinenhalle in Gladbeck, die eigens für die Triennale als Jazzclub „Smoke Ruhr“ hergerichtet wurde, war bei den ersten Konzerten ein Ärgernis. Fast schien es, der ausgesprochen attraktive Raum eigne sich gar nicht für verstärkte Konzerte. Doch viele Meter Stoffbahnen bewirken manchmal Wunder. Die beiden letzten Abende der Reihe mit dem grandiosen „Vienna Art Orchestra“ überzeugten.
Die Erreichbarkeit der Maschinenhalle in Gladbeck ist allerdings ohne Pkw kaum gegeben. Ein Problem, das auch andere Spielorte des Festivals betrifft. Das Ruhrgebiet ist eben noch lange nicht der Mittelpunkt Europas, wie eine Graphik auf der Rückseite des Programmheftes suggeriert. Strahlenförmige Linien führen zu den „anderen“ Metropolen: Berlin, Amsterdam, Brüssel, London, Prag oder Wien. Nur 780 km bis Salzburg, da könnten die festspielverwöhnten Österreicher doch ruhig auch mal nach Duisburg oder Hamm kommen. Die Karte verschweigt allerdings, dass man von Duisburg bis Hamm rund anderthalb Stunden unterwegs ist (falls man nicht im Stau steht). Denn das Ruhrgebiet ist groß, aber eben keine richtige Metropole. Es fehlt das städteübergreifende, geschlossene Nahverkehrsnetz. Shuttle-Busse möchte der Intendant im kommenden Jahr gerne einrichten. Außerdem will er die Informationen über das Festival verbessern, Schulprojekte initiieren und die Werbung intensivieren. Das Marketing war in diesem Jahr noch nicht ausgereift. Zum guten Marketing gehört zum Beispiel die einheitliche Schreibweise des Festivalnamens: RuhrTriennale, Ruhr-Triennale, RUHRtriennale oder gar Ruhrtriennale?
Dass die angestrebten Publikumszahlen nicht erreicht wurden, kann man einem neuen Festival, das ein ambitioniertes Programm bietet, nicht vorwerfen. Mit einer Auslastung von 74 Prozent bei rund 30.000 Zuschauern sei dem Kunstfest ein guter Start gelungen, meldet die Triennale. Die Anzahl der Plätze wurde allerdings zwischenzeitlich von 47.044 (Stand Mai 2002) auf 42.000 reduziert. Nachgefragt waren vor allem die unteren Preiskategorien. Bei einer Fragebogenaktion gab die Mehrheit der Befragten an, sie hielten die Eintrittspreise für angemessen. Die Fragebögen sind allerdings noch nicht vollständig ausgewertet. Der hohe Rücklauf von rund 2.000 ausgefüllten Bögen signalisiert jedoch, dass das Publikum, das einmal den Weg zu den Veranstaltungen gefunden hat, offenbar ein besonders starkes Interesse an der RuhrTriennale hat. Das lässt auch Gerard Mortier hoffen, in den kommenden Jahren breitere Publikumsschichten zu erreichen. Die RuhrTriennale sei die „umfangreichste kulturpolitische Initiative in Deutschland nach der Wende“ heißt es nicht unbescheiden auf den Internet-Seiten des Festivals. Immerhin 41 Millionen Euro lässt sich das Land den ersten dreijährigen Festival-Zyklus kosten (ohne Personalkosten), die erste Saison verschlang davon mehr als neun Millionen. Für das kommende Jahr, das Haupt-Triennale Jahr sind zirka 140 Veranstaltungen geplant. Zum Vergleich: 172 Vorstellungen gab es bei den Salzburger Festspielen in diesem Jahr. Deren Gesamtbudget für 2002 lag allerdings wesentlich höher, bei 43 Millionen Euro. Davon konnten 74 Prozent durch Kartenverkauf und Sponsorengelder selbst erwirtschaftet werden. Die Salzburger Festspiele sollen nach einer Studie der Wirtschaftskammer Salzburg im Jahr 2000 Mehrumsätze von rund 180 Millionen Euro bewirkt haben. Zahlen, die auf das Ruhrgebiet sicherlich nicht übertragbar sind. Die Idee jedoch, mit der RuhrTriennale auch den Kultur-Tourismus zu befördern und von der Umwegrentabilität eines flächendeckenden, internationalen Festivals zu profitieren, verfolgt auch Nordrhein-Westfalens Kulturminister Michael Vesper, der als Aufsichtsratsvorsitzender ein besonderes Interesse am Gelingen des Triennale-Unternehmens hat. Das spartenübergreifende Festival solle die Kulturregion Ruhrgebiet „international zu neuen Ufern“ führen, so Vesper.
Die „Leuchtturmpolitik“ des grünen Ministers ist nicht unumstritten. Die sogenannte „Trotzkopfrunde“, zu der sich die sozialdemokratischen Kulturdezernenten aus Krefeld, Wuppertal, Herne, Dortmund, Essen und Bochum zusammengeschlossen haben, bemängelt, dass Leuchttürme für Nordrhein-Westfalen zwar wichtig seien, die vielfältige Kulturlandschaft aber nicht unter die Räder geraten dürfe. Mit „Zorn und Entsetzen“ registrierten die Dezernenten die Sparpläne des Ministers beim Kulturhaushalt. Er verhindere damit „unzählige kleine Leuchtfeuer“ in der Region. Kritisiert werden auch die Investitionen in gleich mehrere Industriestätten, während die Theater und Opernhäuser des Landes nicht mehr bespielbar seien. Kritische Töne gegenüber der RuhrTriennale als „Sahnehäubchen der Theaterkultur“ kamen auch von der Akademie der Darstellenden Künste in Frankfurt, die an die Grundversorgung und die Vielfalt im Theaterbereich erinnerte. Der Akademie-Präsident Walter Konrad hofft aber auch, dass sich die Triennale positiv auf das Image des Landes auswirkt. In diesem Punkt sind sich dann doch alle einig. Die RuhrTriennale könnte zur neuen Identität des Ruhrgebiets beitragen.
Das Image des Ruhrgebiets könnte auch durch die Neuordnung der Festivallandschaft insgesamt verbessert werden. Gerard Mortier verspricht sich von der Berufung des Regisseurs Frank Castorf zum neuen künstlerischen Leiter der Ruhrfestspiele eine stärkere Profilierung der Ruhrfestspiele als großes Schauspiel-Festival. Ab 2004 sollen zunächst Anfang Mai die Ruhrfestspiele stattfinden, dann Ende Mai bis Juni die RuhrTriennale. Dann folgt im Sommer wie bisher das Klavier-Festival Ruhr, im September geht es weiter mit der Herbstsaison der RuhrTriennale und der Festivalbogen endet mit dem Internationalen Tanzfestival NRW von Pina Bausch. Gerard Mortier will Strukturen schaffen, die es auch Besuchern aus dem Ausland ermöglichen, den Charakter der einzelnen Festivals zu erkennen. Auch die Triennale selbst wird ihr Profil schärfen müssen. Zunächst hat sie jedoch bereits in diesem Jahr ein großes Medienecho ausgelöst und damit die kulturellen Besonderheiten der Region erstmals auch international ins Gespräch gebracht.