Der Kulturkampf zwischen Orient und Okzident war schon im 18. Jahrhundert ein heiß diskutiertes Thema. Damals kamen sogenannte „Türkenopern“ schwer in Mode, in denen die Ängste und Vorurteile im Gefolge der türkischen Belagerung Wiens auf der Bühne verhandelt wurden. Mozarts deutsches Singspiel „Die Entführung aus dem Serail“ ist als eine der prominentesten Türkenopern daher von ganz unverbrauchter Aktualität. Mozart plädierte darin bereits anno 1782 für Versöhnung und friedliche Koexistenz. Die Schlüsselfigur des Konflikts ist in der Oper der orientalische Potentat Bassa Selim, der sich bei Mozart als Humanist erweist.
In der Kölner „Entführung“, die am 26. November vergangenen Jahres zur Premiere kam, hat Opernintendant Uwe Eric Laufenberg türkische und arabische Statisten aus dem Multi-Kulti-Stadtteil Mülheim gecastet und die Sprechrolle des Bassa Selim mit dem kurdischen Schauspieler Ihsan Othmann besetzt, der seinen Part auf Kurdisch spricht. Eine aktualisierende Deutung, die bei der Premiere stellenweise für Irritationen sorgte – und die nun ihre Völker verbindenden Qualitäten in einer Krisenregion unter Beweis stellen konnte.
Denn die Kölner Oper war mit eben dieser Produktion in Sulaymaniyah in der autonomen kurdischen Region im Nordosten des Irak zu Gast.
Sulaymaniyah gilt als die säkularste Stadt Kurdistans. 1968 wurde dort die erste Universität gegründet, und bereits in den 30er-Jahren des letzten Jahrhunderts eröffnete die erste Frauenschule des Landes. Dort ging das erste Theaterstück über die Bühne, es gibt seit langem eine Hochschule der Schönen Künste und inzwischen an die dreißig freie Theatergruppen. Und nun kann sich Sulaymaniyah rühmen, auch der Schauplatz der ersten Opernaufführung überhaupt im Irak gewesen zu sein.
Als der irakische Vizepräsident Mullah Bakhtiar im letzten Jahr auf der Premierenfeier im Kölner Palladium die Neuproduktion der „Entführung“ in den Irak einlud, rechnete wohl niemand ernsthaft damit, dass die Oper drei Monate später tatsächlich mit einer hundertköpfigen Truppe in die Krisenregion aufbrechen würde. Niemand ahnte damals allerdings auch, wie dramatisch sich die politische Lage in den arabischen Ländern entwickeln würde.
Die spontan wirkende Einladung Bakhtiars folgte keineswegs nur einem Impuls, sondern war vielmehr von langer Hand vorbereitet. Schlüsselfigur und Drahtzieher des Gastspiels war nämlich eigentlich der kurdisch-deutsche Schauspieler und Regisseur Ihsan Othmann, der hüben wie drüben arbeitet, und mit Christoff Bleidt, dem Leiter des Berliner Theaterhauses, der Mitinitiator des Berliner Netzwerks für den kulturellen Wiederaufbau im Irak ist. Seit mehr als fünf Jahren bemüht sich die Initiative um den kulturellen Austausch zwischen Deutschland und dem Irak.
Der Schauspieler verkörpert in der Produktion des Kölner Opernintendanten die heikle Sprechrolle des Bassa Selim. Regisseur Laufenberg hat in Mozarts Singspiel die Exotik gestrichen und die Handlung stattdessen in die triste Gegenwart verlegt, irgendwo zwischen Berlin-Neukölln und Bagdad. Der orientalische Potentat Bassa Selim verschiebt bei Laufenberg Waffen und elektronische Geräte. Lustvoll und bewusst das politisch Inkorrekte streifend spielt die Regie mit westlichen Islam-Klischees. Ein islamisches Land als Aufführungsort einer solchen Produktion hätte sich also auch bei stabiler politischer Lage als heißes Pflaster erweisen können, trotz Mozarts humanistischem Plädoyer für friedliche Koexistenz und Laufenbergs Regie-Kniff mit dem kurdischen Bassa.
Doch dann nahmen parallel zu den Gastspielvorbereitungen die Dinge im arabischen Raum ihren eskalierenden Lauf, und knapp zwei Wochen vor dem Aufbruch des Gastspiels verfinsterte sich ausgerechnet in Sulaymaniyah die Lage. Bislang hatte die autonome kurdische Region als sicherste im Irak gegolten, doch seit Mitte Februar begannen auch dort die Protestmärsche, an deren Rändern es zu Todesfällen kam.
Zu diesem Zeitpunkt ließ sich das Gastspiel, das von der Patriotischen Union Kurdistan – der Regierungspartei der autonomen Region, der Mullah Bakhtiyar vorsteht – komplett finanziert wurde, jedoch nicht mehr aufhalten. Und schließlich reiste die Kölner Oper gegen alle Bedenken Ende Februar auf beschwerlichen Wegen doch noch ins wilde Kurdistan, um unter widrigsten Bedingungen die erste Opernaufführung im Irak vorzubereiten. Da die dortige Situation von Deutschland aus schwer einzuschätzen war, stellte die Theaterleitung allen Mitwirkenden die Teilnahme am Gastspiel frei. Im Bewusstsein des nicht zu unterschätzenden Risikos dieser Reise setzte sich das Opernteam daher ausschließlich aus Überzeugungstätern zusammen, die den Anstrengungen und Zumutungen der Reise mit stoischer Ruhe begegneten.
Vorsicht war allerdings auch im Interesse der Gastgeber oberstes Gebot in Sulaymaniyah: Sicherheitskräfte bewachten jeden Schritt der Operntruppe, selbst das Zigarettenholen wurde von einer Security-Eskorte begleitet, und vor dem Hotel wachten Männer in Tarnanzügen mit geschulterter Maschinenpistole. An den Anblick scharfer Waffen gewöhnte man sich allerdings rasch, denn im Irak gehören sie zum Alltag.
Die Kölner Theaterleute hatten ohnehin andere Sorgen, denn der Spielort Telary Honer war zwar vorab für operntauglich befunden worden. Tatsächlich aber herrschten Bedingungen, die allen Mitwirkenden ein Höchstmaß an Improvisationskunst abforderten.
Es gab weder Garderoben noch eine Theater-Infrastruktur, bei der ersten Bühnenbegehung stellte sich heraus, dass der Orchestergraben unter einem roten Teppichboden freigelegt werden musste und keinen unterirdischen Eingang besitzt, so dass das Orchester von der offenen Bühne mit dem Graben heruntergefahren werden musste. Die Container mit Bühnenbild und Requisiten kam mit 24-stündiger Verspätung an, der Requisitenkoffer auf dem Kopf und alle Pappkisten vom Zoll aufgeschlitzt.
Mit der Premiere nahte der Tag der Wahrheit: Wie würde der Kulturschock Oper vom kurdischen Publikum aufgenommen? Wie würden die Orient-Klischees ankommen?
Die Überraschung hätte schließlich größer nicht ausfallen können, denn tatsächlich übertrafen die Reaktionen der Kurden im voll besetzten 1.600-Plätze-Saal die kühnsten Hoffnungen: Den größten Beifall heimste ausgerechnet die grobe Muslim-Karikatur des Harem-Aufsehers Osmin ein, dessen Streitereien mit dem emanzipierten Blondchen um die Rolle der Frau wurden mit Heiterkeit und Bassa Selims Versöhnungsworte mit Szenenapplaus quittiert. Die humanistische Botschaft kam an. Mozarts Musik dagegen schien zunächst so fremd wie das Ritual Oper an sich. Es herrschte Unruhe im Saal, es wurde leise kommentiert und diskutiert und die Handys blieben eingeschaltet. Geklatscht wurde zuerst vorzugsweise mitten hinein in Mozarts Generalpausen. Doch im zweiten Teil wurden die Generalpausen erstaunlicherweise plötzlich verstanden und mit spürbarer Spannung abgewartet. Die Konzentration stieg merklich an und es wurde ruhiger im Saal. So, als hätte Mozarts Musik eine natürliche Autorität, die das Ritual Oper von ganz allein entstehen lässt. Am Schluss standing ovations und großer Jubel. Von wegen Kulturschock.