Bei der Fülle an Bach-Literatur hätte man kaum gedacht, dass ein Kompendium über Werke für und mit Tasteninstrumenten – zumal mit einem Umfang von mehr als 800 Seiten – noch von Interesse sein könnte.
Doch nach wenigen Seiten des Lesens bemerkt man bereits, dass hier auf charmante Weise die Verbindung zwischen Wissenschaft und Praxis aufgenommen wird: Es spricht der Musiker mit Forschergeist zu uns, übermittelt seine Erkenntnisse und Erfahrungen ohne Belehrungen, ohne Aufdringlichkeit.
Wir hören von Bachs Instrumenten, für die er schrieb, von Gewohnheiten, Lebensumständen und Orten und begreifen, dass sich nur so der Zugang zum einzelnen Werk erschließt. Geschickt wird ebenso die vorhandene Literatur zu dessen Kompositionen im Umfeld des Forschungsstandes benannt und einbezogen.
Das Inhaltsverzeichnis lässt kaum Wünsche offen:
Im ersten Kapitel widmet sich Billeter der Aufführungspraxis. Mit profundem Wissen erklärt er Orgeln und Tasteninstrumente des Meisters, deren Stimmungen sowie die Ausführung von Tempi, Artikulationen und Verzierungen.
Im zweiten Kapitel geht es um Kompositionen bis 1708, also vorwiegend Orgelstücke, und die frühe Berufstätigkeit. Das dritte und vierte Kapitel stellt die Zeit in Weimar und Köthen hervorragend dar, Kapitel fünf die Tätigkeiten als Thomaskantor in Leipzig. Im Schlussteil des Kompendiums werden die kompositorisch intensiven Jahre von 1738 bis zum Todesjahr 1750 (mit der Kunst der Fuge, dem musikalischen Opfer, Clavierübung III., Goldbergvariationen) beschrieben.
In seinem Vorwort zum Bach-Handbuch stellt Bernhard Billeter seine Intention vor: „Es ist ein heute immer schwerer erfüllbares, aber umso wichtigeres Anliegen, musikalische Praxis und Wissenschaft miteinander zu verbinden. Aus solcher Verbindung heraus ergeben sich häufig überraschende Einsichten, wie ein musikalisches Werk quellenkundlich, stilistisch und entwicklungsgeschichtlich einzuordnen, zu ,analysieren‘, das heißt zu beschreiben und praktisch zu interpretieren sei. Die Chronologie und sogar die Echtheit Bach’scher Werke sind oftmals sehr unsicher. Außerdem lassen sich längst nicht alle Fragen über die damalige Spielpraxis lösen.
Nur ein Beispiel sei genannt: Ist Bachs ,Wohltemperierung‘ gleichstufig oder ungleichstufig ? (…) Es ergeben sich Probleme, die weder die Praxis noch die Musikwissenschaft alleine lösen kann. Demgemäß soll das Handbuch musikwissenschaftlichen Ansprüchen zwar gerecht werden, sich aber in erster Linie an interessierte Tastenspielende wenden, seien es Professionelle oder Amateure, aber auch an ein geistig regsames Publikum.“
Der Autor Bernhard Billeter unterrichtete viele Jahre als Dozent die Fächer Orgel, Hammerflügel, Clavichord und Aufführungspraxis an der Musikhochschule Zürich und war zudem Lehrbeauftragter an der Universität Zürich sowie Organist an der Kirche zu Predigern in Zürich. Von 1969 bis 1981 unterrichtete er Klavier an der Berufsausbildungsklasse des Konservatoriums Luzern. Von 1984 bis 1997 war er Chefredakteur der „Schweizerischen musikpädagogischen Blätter“. Es gibt zahlreiche Veröffentlichungen in den Themenbereichen Musikphilosophie, Musiktheorie und Aufführungspraxis. Konzerttätigkeit und Einspielungen führten ihn und seine Kammermusikpartner in viele Länder. In den 90er-Jahren spielte Bernhard Billeter in Zürich einen Konzert-Zyklus mit sämtlichen Kompositionen für Tasteninstrumente von Johann Sebastian Bach.
Zwei Punkte sind an Billeters Handbuch besonders zu erwähnen: die Leichtigkeit, mit der hier schwierigste Sachverhalte erklärt werden, und die Sorgfalt, mit der der Autor in seinen Texten vorgeht. Er versucht alles genauestens zu beschreiben, entlastet jedoch zuweilen den Amateur durch die Bemerkung, der nicht so speziell an der Analyse Interessierte möge getrost das nächste Kapitel aufschlagen.
Neben den Werk- und Satzanalysen finden sich aber vor allem höchst interessante „Exkurse“, beispielsweise über die „Entwicklung der Fuge“ oder „Zahlensymbolik“ und „Tonartencharakteristik“. Bemerkenswert ist zudem, dass Billeter sich mit Selbstverständlichkeit auch der obligaten Begleitungen widmet. Das betrifft die Violinsonaten, vor allem aber die Flötensonaten und die Trio-Sonate aus dem musikalischen Opfer. Billeter, der diese Werke selbst oft in Konzerten gespielt hat, gibt hier nicht nur eine Beschreibung, sondern liefert zu den Ergänzungstakten des Flötisten André Jaunet (zum Allegrosatz der Flötensonate A-Dur) eine 20-taktige Erweiterung, die das formale Gleichgewicht nun endlich abfängt und zukünftig in Neudrucken berücksich-
tigt werden sollte.
Ebenso künstlerisch betätigt sich Billeter auch im Fall der „Fuga a 3 Soggetti“, die bislang original nur als Torso existiert und nicht aufgeführt wird. „Leider ist die Konzeptschrift Bachs verloren gegangen. In der Reinschrift lässt sich auf dem letzten Blatt der vermutliche Ablauf des Dramas verfolgen: Bach pflegte die Notenlinien mit einem Rastral (fünf zusammengebundene Kielfedern) von Hand zu ziehen. Auf diesem Blatt ist ihm das wegen der Schwächung seiner Sehkraft, die sich auch an den Schriftzügen ablesen lässt, nicht nach Wunsch gelungen, und aus irgendeinem Grund blieb die Abschrift unfertig liegen.“ Doch nun gibt es eine Ergänzung von 44 Takten von Billeter, die diese Fuge spielbar macht.
Es gäbe noch viele beeindruckende, erstaunliche und auch amüsante Dinge aus diesem Bach-Handbuch zu erzählen…
Dieses Kompendium ist rundum interessant und aufschlussreich zu lesen.
Bernhard Billeter: Bachs Klavier- und Orgelmusik, Amadeus-Verlag, Winterthur, Schweiz