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Unerschöpfliche Spiele mit dem Erdenklichen

Untertitel
Zum 70. Geburtstag des Komponisten und Theologen Dieter Schnebel · Von Hans-Klaus Jungheinrich
Publikationsdatum
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In dieser Färbung ist das musikalisch Denkbare nicht gleich ein bloß Beliebiges, Zufälliges, vielmehr Spielmaterial der künstlerischen Freiheit. In diesem doppeldeutigen „denkbar“ sind also wichtige Komponenten der Schnebelschen Haltung und seiner Stellung in der jüngsten Kompositionsgeschichte kondensiert. Das „Denkbare“ umschließt unverbrüchliche Experimentierlust, Treue zur Moderne und ein geschärftes Bewusstsein materieller Entgrenzungen, aber auch die Neigung zum Unorthodoxen, zum produktiven Widerspruch, zu befreiender Selbstbefragung und Selbstveränderung. Gleichsam an einem äußersten Zipfel erfasst „denkbar“ eventuell auch noch die Duplizität des evangelischen Theologen und des Künstlers Schnebel, so etwas wie einen (kaum mehr substantialistisch, erst recht nicht fundamentalistisch verstandenen) existentiellen Bezug radikalen Komponierens im nachmetaphysischen Zeitalter, wo im Kontext mit dem Dogma von der „undenkbaren“ Transzendenz deren Nach- und Widerschein doch ins Denkbare gehalten wird.

„Denkbare Musik“ war der Titel einer Sammlung eigener Schriften, die Dieter Schnebel im Jahre 1972 publizierte. Ein schöner Titel, der vielleicht auch als ein Motto von Schnebels Kunst- und Lebenspraxis verstanden werden könnte. „Denkbare Musik“ – das heißt: alle nur erdenkliche, jedwede vorstellbare Musik; damit ist das Virtuelle und Utopische einbegriffen und das unbeirrbare Experiment, der Entwurf des Unerhörten, des zwar noch nicht Bedachten, gar Durchdachten, aber Denkbaren, also des Gedankens Würdigen, durch die Schleuse des Denkens und Machens aus der Möglichkeitssphäre in die Wirklichkeit Eintretenden. „Denkbare Musik“: in einem anderen, lockereren Sinne wäre das womöglich auch eine nur halb ernste, mehr spielerisch zu erwägende als strikt zu realisierende Musik, eben nicht notwendig, höchstens denkbar, ein An- und Aufschein, der nicht in Erscheinung zu treten braucht, irgendwelchen historischen Gesetzmäßigkeiten oder Zwängen nicht unbedingt unterworfen. Dieter Schnebel / Foto: Charlotte Oswald In dieser Färbung ist das musikalisch Denkbare nicht gleich ein bloß Beliebiges, Zufälliges, vielmehr Spielmaterial der künstlerischen Freiheit. In diesem doppeldeutigen „denkbar“ sind also wichtige Komponenten der Schnebelschen Haltung und seiner Stellung in der jüngsten Kompositionsgeschichte kondensiert. Das „Denkbare“ umschließt unverbrüchliche Experimentierlust, Treue zur Moderne und ein geschärftes Bewusstsein materieller Entgrenzungen, aber auch die Neigung zum Unorthodoxen, zum produktiven Widerspruch, zu befreiender Selbstbefragung und Selbstveränderung. Gleichsam an einem äußersten Zipfel erfasst „denkbar“ eventuell auch noch die Duplizität des evangelischen Theologen und des Künstlers Schnebel, so etwas wie einen (kaum mehr substantialistisch, erst recht nicht fundamentalistisch verstandenen) existentiellen Bezug radikalen Komponierens im nachmetaphysischen Zeitalter, wo im Kontext mit dem Dogma von der „undenkbaren“ Transzendenz deren Nach- und Widerschein doch ins Denkbare gehalten wird. Stämmig und bodenständig

Dieter Schnebel stammt vom Rande des mittleren Schwarzwalds; er wurde am 14. März 1930 im badischen Lahr (Kreis Offenburg) geboren, der Heimat des jahrhundertealten „Hinkenden Boten“, eines Almanachs, der als urtümliches regional geprägtes Druckerzeugnis zwischen Vademecum und Zeitung fremd bis in unsere Jahre hineinragt. Etwas Stämmiges und Bodenständiges behielt Schnebel immer, und wenn er gerne vom „nicht Geheuren“ oder „Unheimlichen“ in der Kunst sprach, dann schien er nicht nur geprägt von akademischen philosophischen Diskursen oder hochliterarischen Erfahrungen der Moderne, sondern, in einer tieferen Schicht, auch von den Spukgeschichten des Schwarzwaldes und den populären Schicksalsanekdoten Johann Peter Hebels. Als die Land-Art-Mode aufkam, zollte ihr Schnebel mit dem Bühnenwerk „Jowägerli“ (Teil der zusammen mit dem Szeniker Achim Freyer entwickelten Arbeit „Vergänglichkeit“) scheinbar à jour einen erklecklichen Tribut, doch lag dies durchaus auf der Linie einer sonst bei Schnebel zu beobachtenden „Bodenhaftung“. Dergestalt hantierte er auch früher und unbedenklicher mit auskomponierten Traditionsbezügen, etwa bei der „Schubert-Phantasie“ 1978 oder dem „Wagner-Idyll“ 1980.

Tugenden der Anarchie

Nichts davon bedeutete Festlegung oder Verfestigung. Die schönen Tugenden der Anarchie hatte Schnebel, wie andere seiner Generation, bei John Cage geschmeckt, und sie schmeckten ihm. Derlei in eine rundum harmonische Lebenskunst zu transponieren, konnte ihm weniger gelingen; von katastrophischen Interpunktionen blieb die Biografie Schnebels nicht verschont. In seiner Majakowski-Oper (uraufgeführt 1998) spürt er dem Rätsel des Selbstmordes nach. Das Tragische, von Haus aus nicht unbedingt eine zentrale Kategorie seines Schaffens, tönt da mächtig heraus.

Der frühe Schnebel verfolgte konsequent parallel zwei Professionen. Er wirkte als Pfarrer und Religionslehrer, zum Teil auf dem Lande, dann in Frankfurt am Main und in München. Das Lehramt gab ihm auch Gelegenheit, musikpädagogisch aktiv zu werden, allerdings wie nicht anders „denkbar“, keineswegs in den Gleisen herkömmlicher Musikpädagogik. Im Konnex mit Jugendlichen entstand die Werkreihe „Schulmusik“, mit der schließlich auch weitere Konzeptionen wie „Handwerke – Blas-Werke“, „Maulwerke“ und „Glossolalie“ zusammenhängen. Schnebel bewies mit solchen Hervorbringungen, dass avancierte Musik keine Angelegenheit hochprofessioneller Spezialisten zu sein braucht.

Und er brach der Erkenntnis Bahn, dass jeder mit den Mitteln seines Körpers zum „Instrument“ oder musikalischen Subjekt werden könne. Diese sozusagen urdemokratische Musikpraxis hinterließ mannigfache, wenn auch immer noch zu wenige Spuren bei der jüngeren Generation.

Dass den Klängen auch bei Schnebel zeitweise weniger Aufmerksamkeit geschenkt wurde als den Prozessen ihrer Hervorbringung, ihrer Performanz (ja, Performance), lag auch im allgemeinen avantgardistischen Trend der sechziger und siebziger Jahre. Stark von der Psychoanalyse beeinflusst, rieb sich Schnebel wie andere an autoritären Modellen der gängigen Musikausübung, etwa an der Rolle des Dirigenten, selbstverständlich auch am „großen Kunstwerk“ als Anlass der Identitätsverfestigung und Ichvergrößerung. Demontage, Dekomposition, Dekonstruktion waren auch bei ihm angesagt. Schnebel wurde zu einem der Hauptexponenten des „instrumentalen Theaters“, das implizit den Werkbegriff kritisierte, freilich auch noch der postseriellen Idee einer kompositorischen Bemächtigung musikfremder Materialien und Parameter entspringen mochte. Vor der Fixierung zur „Privatmythologie“ machte Schnebel Halt, und das trennte ihn doch auch entscheidend von Stockhausens Selbstzwang zum monomanen und egomanen Groß- und Meisterwerk. Deutlich differierte Schnebels Ansatz aber auch vom kataloghaft-systematischen Vorgehen des alle „denkbaren“ Musikbereiche ausforschenden Mauricio Kagel, und ebenso wenig mochte er sich in Sonderrubriken einnisten wie in György Ligetis absurd-mechanischer Theatralik oder György Kurtágs poetologischen Bartók- und Webern-Konzentraten.

Die Freiheit im Umgang mit „denkbarer“ Musik führte Schnebel dann doch auch wieder mehr zum Musikalischen selbst hin, zum neu gesehenen, neu gehörten, klingenden Material, auch zum, wie auch immer gebrochenen, Rekurs auf traditionelle Großformen wie Oper und Symphonie. Bezeichnend dafür ist die 1992 in Donaueschingen uraufgeführte „Symphonie X“. Auch dies ein hintersinniger, vieldeutiger Werktitel. Nicht schlichtweg eine „zehnte Symphonie“; ihr sind keine neun von Schnebel vorausgegangen, keine einzige. Und dennoch ist es eine „Zehnte“ im latenten Verweis auf Beethovens Neunte, nach wie vor ein Referenzwerk rigorosen und zumal „deutschen“ Komponierens. Zugleich markierte das „X“ aber auch mit einer mathematischen Assoziation das Unbekannte oder, mit einem von Adorno bevorzugten Begriff, das „Nichtidentische“. Will sagen: Dem Traditionalismus Schnebels ist nicht zu trauen. Er entschlüsselt sich nur durch die lange Erfahrung einer experimentellen, einer „bestimmten Negation“ von Tradition.

Kunst und Leben

Von John Cage lässt sich sagen, dass er mit kühnen konzeptionellen Ideen die Musikästhetik des späten 20. Jahrhunderts umwälzte und dabei auch eine neuartige innige Verbindung von Kunst und Leben provozierte und initiierte. Sieht man von Einigem beim frühen Cage ab, so gibt es bei ihm keine im klingenden Ergebnis eindrucksvollen oder hinreißende Werke – solchen Phänomenen entzieht sich seine Ästhetik grundsätzlich, so dass die entstehenden Klänge fast nur wie Abfallprodukte der interessanten Prozessualität anmuten.

Schnebel nähert sich in manchen seiner Stücke dem, was man als Cagesche Anti-Sprachlichkeit oder Kompositionsverweigerung bezeichnen könnte. In anderen Stücken, wie „Majakowski“, „Symphonie X“ oder „Glossolalie“, geht es ihm eher um die emphatische „Errettung“ musikalischen Sprechens und der restituierten Werkhaftigkeit. In „Glossolalie“ bleibt dieser Aspekt in der Schwebe: die Komposition hält sich paradox an die Imago des Unmittelbaren, Spontanen, Unbewussten, beschwört die göttliche „Zungenrede“ des Pfingsterlebnisses.

Und auch in noch so bescheidenen „Maulwerken“ glimmt der Funke transzendenter Berührtheit. Alle Dichotomien von Kunst bleiben offen, alle Antithesen ungeklärt. Es bleibt die Lust am Weitermachen, am Wieder- und Neuanfangen; unabsehbar, worauf es hinausgeht, und kein Ende absehbar. Viel ist noch „denkbar“. Dieter Schnebel wird sicher noch einiges davon zur sinnlichen Evidenz bringen.

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