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Universeller Komponist wortgebundener Musik

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Alessandro Scarlatti zum 350. Geburtstag
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Unter die Gedenktage für herausragende Komponisten fällt dieses Jahr auch der 350. Geburtstag von Alessandro Scarlatti, geboren in Palermo am 2. Mai 1660. Vergegenwärtigt man sich das Gesamtwerk Scarlattis, so mag man über die schier unglaubliche Vielzahl seiner Kompositionen staunen, noch mehr ist man aber beeindruckt von der Vielfalt seines Schaffens. Es legt sich nahe, dem Komponisten die geradezu universalistische Absicht zu unterstellen, sich in allen Stilen und Gattungen zu beweisen.

Seine Werke haben jedoch im Musikleben unserer Jahrzehnte trotz der wachsenden Zahl von Wiederaufführungen noch längst nicht den Platz errungen, die ihrem Rang entsprechen würden. Diese Tatsache steht auch in eklatantem Widerspruch zu der künstlerischen und historischen Bedeutung, die dem Komponisten von den älteren Musikforschern bis in die heutigen musikwissenschaftlichen Diskurse zuerkannt werden. Man weiß eigentlich nicht, was man an Scarlattis Schaffen mehr bewundern soll: die „ungränzbare Weite“ seiner harmonischen Erfindung, seine kontrapunktische Meisterschaft, den stets wachen rhythmischen Impuls seines Komponierens oder den Schwung und den Schmelz seiner melodischen Begabung.

Das Wort als zündender Funke

Fällt heute der Name Scarlatti, so wird damit in der Regel sein Sohn Domenico (1685–1757) gemeint. Die ungebrochene Faszination und der Glanz der einzigartigen Sonaten für Tasteninstrumente überstrahlen seit mehr als zwei Jahrhunderten den Ruhm seines Vaters. Alessandro Scarlatti hingegen ist ein Komponist von wortgebundener Musik. Seine Musik ist zuinnerst und fast ausschließlich mit dem Wort verbunden. Seine kompositorische Fantasie, seine Invention gerät über dem Text und seinem Inhalt in Bewegung. Der zündende Funke ist die Sprache, das Wort. „Nur jener Komponist vermag die Leidenschaften des Gemüts zu bewegen“, der sein Werk „dem Sinn und der Nachahmung der Worte gemäß einzurichten weiß“. Wenn Scarlatti in einem Traktat (Discorso, 1717) an diesen für ihn verbindlichen „Endzweck“ aller Musik erinnert, so handelt es sich in seinem Fall nicht bloß um eine stereotype Referenz gegenüber jenem Axiom, das Claudio Monteverdi zu Beginn seines Jahrhunderts mit „l’oratione sia padrona dell’armonia“ („die Rede sei die Herrin der Musik“) proklamiert hatte. Scarlatti formuliert damit das Ziel, das er sich in seiner künstlerischen Arbeit gesetzt hatte, er stellt damit aber zugleich den folgenschweren Anspruch an seine Hörer – von damals und von heute –, sich das Verständnis seiner Kompositionen auch vom Text her zu erschließen.

… und als Stein des Anstoßes

Was aber geschieht, wenn die Texte dem heutigen Hörer nicht mehr viel oder gar nichts mehr zu sagen haben? Ein musikalisch so bedeutender Teil des Œuvres von Scarlatti wie die über sechshundert weltlichen Solokantaten – sie bestehen in der Regel aus zwei oder drei Arien mit dazugehörigen Rezitativen – wird solange ein musikarchäologisches Trümmerfeld bleiben, bis es gelingt, den Texten neues Leben einzuhauchen. Eine Wiederentdeckung und Neubewertung der Lyrik des späten Seicento ist in Gang gekommen, neues Licht wird dabei auch auf die Poeme zu den Kantaten fallen.

Scarlatti hat sich wohl in erster Linie als Opernkomponist verstanden, jedenfalls bildet das  „dramma per musica“  einen Schwerpunkt seines Schaffens. Auch in dieser Werkgattung fällt es nicht leicht, einen Zugang zu den Libretti zu finden. Doch wie lange hat es gedauert, bis die Bühnenwerke Händels endlich ihren festen Platz in den Spielplänen gefunden haben? So verspricht gerade die Händel-Renaissance unserer Tage, dass es der inszenatorischen Fantasie gelingen mag, auch die Widerstände zu überwinden, die sich mit den zeitgebundenen Texten der Opern Scarlattis stellen. Die Aufführung von „ La Griselda“, Scarlattis letzter Oper von 1721, die vor ein paar Jahren an der Berliner Staatsoper unter René Jacobs herausgebracht wurde und auch auf CD erschienen ist, hat jedenfalls erkennen lassen, welch musikdramatische Substanz dabei freigesetzt werden kann (Harmonia mundi 2003).

Editionen und Einspielungen

Als 1972 der Katalog zum Gesamtwerk Alessandro Scarlattis vorgelegt wurde (Giancarlo Rostirolla, Rai Rom), schien der Zeitpunkt gekommen, dass sich Italien der nationalen Verpflichtung stellen werde, nun auch eine Gesamtausgabe der Werke Scarlattis anzugehen, wie dies für Bach und Händel nach dem Zweiten Weltkrieg beispielhaft unternommen worden war. Die damalige Chance blieb ungenützt. Zwar ist in der Zwischenzeit editorisch recht viel geschehen, doch handelt es sich dabei weitgehend um persönliche, nicht koordinierte Initiativen, sodass die modernen Ausgaben seiner Werke über alle Welt zerstreut sind. Im Blick auf das bevorstehende Scarlatti-Jahr hat sich um das römische Istituto italiano per la storia della musica (Agostino Ziino, Präsident) eine Gruppe von Herausgebern geschart, die in Ergänzung zu den bestehenden Einzelausgaben und bisherigen Reihen (Opern und Oratorien) gleichsam ein Sammelbecken für Scarlattis „Musica vocale e strumentale“ bilden wollen. Eine historisch-kritische Gesamtausgabe seiner Werke jedoch ist in weite Ferne gerückt.

Wirft man einen Blick auf die Einspielungen seiner Kompositionen, so dominieren überraschenderweise die Oratorien und die Kirchenmusik das derzeitige Angebot. Die meisten Oratorien schrieb Scarlatti für Rom, wo die Opernhäuser auf Grund päpstlicher Erlasse immer wieder geschlossen blieben. Diese Kompositionen, die keiner szenischer Realisierung bedürfen, unterscheiden sich jedoch in ihren musikalischen Mitteln kaum von der Oper. Dennoch führen sie im Ton und in ihrer Aussage nicht zu einer Profanierung der geistlichen Texte.

Das gilt auch für Scarlattis Kirchenmusik. Der Kirchenstil („stile da chiesa“) jener Jahrzehnte gab dem Komponisten die Möglichkeit, alle Erfahrungen und Errungenschaften der Musik seiner Zeit auch im Kirchenraum einzusetzen. Die zeitgenössischen Theoretiker unterschieden mindestens vier Arten des Kirchenstils. Keineswegs standen sich bloß eine „alte“ und „neue“ Schreibweise gegenüber, wie lange angenommen wurde. Doch die Gewähr dafür, dass die verschiedenen Stile ihren Auftrag im Gottesdienst tatsächlich zu erfüllen vermochten, bot das Maß ihrer inneren Übereinstimmung mit dem Text, das heißt ihre Bindung an das Wort, das als Musik „hörbar“ gemacht werden sollte.

Ein Forschungszentrum für Alessandro Scarlatti

Um der Auseinandersetzung mit der Lebens- und Schaffenswelt des Komponisten und den Aufführungen seiner Werke stärkere Resonanz zu verschaffen, soll ein internationales Forschungszentrum für Alessandro Scarlatti errichtet werden, in der Art jener Institutionen, wie sie für Komponisten des 20. Jahrhunderts geschaffen wurden. Auf einer Tagung in Venedig, die von der Fondazione Levi (Venedig) im Zeichen des Scarlatti-Jahres 2010 bereits im Februar durchgeführt wurde – weitere Scarlatti-Symposien sind in Rom, Neapel und Reggio Calabria angesagt –, hat die Initiative ein konstruktives Echo gefunden. Die renommierte Fondazione Levi (wisssenschaftliche Leitung: Antonio Lovato) ist bereit, die Patenschaft für das Projekt zu übernehmen und an seiner Vorbereitung und Durchsetzung mitzuwirken.

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