Am 29. Juli 2009 nahm der Komponist und nmz-Kolumnist Nikolaus Brass den Musikpreis der Stadt München entgegen. Neben der Würdigung des Preisträgers geriet die Verleihung auch zu einer Gedenkfeier für den einige Tage zuvor verstorbenen Musikpublizisten und nmz-Redakteur Reinhard Schulz. Der hatte die Laudatio auf Brass verfasst, wohl wissend, dass er sie wahrscheinlich nicht selber würde vortragen können. Auszüge daraus lesen Sie auf Seite 5. Nikolaus Brass wiederum verband seinen Dank für den Münchner Musikpreis mit einer Würdigung des Verstorbenen:
Dass diese Feier ohne Reinhard Schulz stattfindet, berührt und bewegt mich sehr. Er hatte auf meine Anfrage im April, ob er für den heutigen Termin die Laudatio verfassen wolle, sofort zugesagt, gleich mit dem Zusatz: Aber vortragen muss das dann vielleicht ein anderer. Er war sich der Begrenztheit seiner Lebenstage sehr bewusst.
Ich schulde Reinhard Schulz viel. An seinem Beurteilen, das nie ein Verurteilen war, habe ich viel gelernt. Gelernt, wie – abseits von aller journalistischer Geläufigkeit – über unsere Lage, das heißt die Lage der Kunst und hier: die Lage der Neuen Musik, nachzudenken Not tut. Sein Urteil wuchs aus dem Zentrum einer klugen, erfahrenen, lebensgesättigten Person und war gebettet in eine große Weite einer vitalen Wahrnehmungslust. Diese Lust wiederum war bestens vor Beliebigkeit gewappnet durch einen scharfen Verstand und – für mich das bestimmendste – durch ein untrügliches Gespür für Stimmigkeit, für die personale Glaubwürdigkeit einer künstlerischen Position. Dabei blieb sein Blick aufs „Ganze“, das heißt den gesellschaftlichen Bestimmungsrahmen und das, was die Kunst im Kunstbetrieb macht und umgekehrt, was der Betrieb aus der Kunst macht, ganz nüchtern und unverstellt.
„Ist doch ein ganz schönes Konzert geworden“, „ja, ist doch schön …“, „schönes Stück“: Wenn Reinhard das sagte in seinem unnachahmlichen Tonfall, dann meinte er das auch so im vollen Bewusstsein, dass mit der anscheinend verbrauchten Vokabel „schön“ Bezug genommen ist auf das, was die Kunst antreibt und nicht loslässt und nicht loslassen darf: die Schönheit. Und der Schönheit – auch und gerade in der Neuen Musik – war eine seiner letzten größeren Veröffentlichungen im Bayerischen Rundfunk gewidmet [siehe Programmhinweis]. Mit Reinhard Schulz fehlt künftig eine wichtige Stimme. Seine Worte, die wir gerade in der Laudatio gehört haben, gehen weit über den heutigen Anlass hinaus. Sie berühren die Frage unserer Selbstachtung. Und damit die Frage, welche Rolle, im privaten wie im öffentlichen Bereich, Achtung in unserem Leben einnehmen will. Und es folgt daraus die Frage nach der Aufgabe der Kunst in einer Gesellschaft, die sich anschickt, Achtung und achtsamen Umgang mehr und mehr einem globalen Zynismus des Zwecks zu opfern. (…)
Achtung und Achtsamkeit sind universale Haltungen, die die Nicht-Zweckhaftigkeit – des Menschen, der Natur, des Erlebens – und damit die grundsätzliche Offenheit des Daseins betonen und verteidigen gegenüber einer gesellschaftlichen Haltung, die Vernutzung, Verbrauch, Verzehr als ihr intrinsisches Prinzip propagiert und ausagiert und dabei das Zerstörerische dieser Haltung in einer planetarischen Unausweichlichkeit mythologisiert. Verblendet ist das Zerstörerische dieser Grundhaltung durch den Flimmerschein der Massenmedien und Massenkommunikationsmittel. In einem wechselseitigen Verantwortungsverhältnis von Künstler und Öffentlichkeit muss es darum gehen, der Welt der Zwecke eine Welt der Achtung aus Achtsamkeit wenigstens entgegenzuhalten – dass wir die Gesamtheit unserer Lebens- und Arbeitsbeziehungen unter dieses Zeichen stellen, ist unwahrscheinlich und bleibt wohl Utopie, auch wenn es betörende Beispiele des Gelingens gibt, etwa in der Blütezeit monastischen Lebens in Europa.
Achtsamkeit – übrigens eine völlig diesseitige Übung – ist die Schule der Wahrnehmung dessen, was ist. Sie ist damit die Kritik des „als ob“ (und damit eine der schärfsten Kritiken überhaupt!). Alle Künste wiederum können als Schulen der Achtsamkeit verstanden werden, – vor allem in Zeiten, in denen die Prägekraft der Systeme schwindet und die Faszination des Phänomens als Erscheinung seiner selbst an Gewicht gewinnt, – denn sie richten unser Wahrnehmen ebenfalls auf nichts anderes, als auf das, was am, im Kunstwerk der Fall ist. In einer gemeinsamen Verantwortung von Kunst und Öffentlichkeit muss es heute darum gehen, künstlerische „Schutzräume“ zu errichten und zu beleben und als Modell für eine andere Bewohnbarkeit dieser Welt zugänglich und kenntlich zu halten – jenseits des technisch-industriellen Vernutzungs-Verhältnisses zur Welt.
Sich um diese Schutzräume zu kümmern ist nicht nur die Aufgabe von Kulturreferaten (…), sondern „Kümmerer“ in diesem Sinne müssen wir alle sein, Künstler, Produzenten, Publikum. Nur dann werden wir unserer Verantwortung gerecht. In der speziellen Verantwortung des Künstlers liegen dabei drei Blicke: 1. der persönliche Blick, 2. der analytische Blick, 3. der Blick der Liebe. Keine Kunst ohne diese drei, in der Diskussion (und in der Ausbildung) sind meistens Blick 1 und 2. Aber das Streichquartett von Luigi Nono oder eine Motette von Josquin, Schuberts Klaviersonate B-Dur oder Bernd Alois Zimmermanns „Stille und Umkehr“, Beethovens op. 96 oder Feldmans „coptic light“: Diese Werke sind nicht nur Zeugnis einer geschichtlichen Person, nicht nur Zeugnis eines analytischen, das Metier seiner Zeit und das der vorangegangenen Epochen durchdringenden Geistes, sondern Zeugnis einer bestimmten, eben „anderen“ Lesart der Welt. Lesart verstanden als Auflesen, Zusammenlesen, Versammeln. Dieses Lesen ist kein Lesen in Begriffen, sondern in Begegnung. In dieser Art des Lesens ist Achtsamkeit, ist die Annahme des Gegebenen als Gegebenes, ist der liebende, nicht der zynische Blick auf die Endlichkeit des Menschen und seine Gebrechlichkeit, ist der liebende Blick auf die Fülle wie die Unwiederbringlichkeit gelebter Zeit. Erst dieser liebende Blick (der den persönlichen und den analytischen Blick durchtränkt) entscheidet darüber, ob Wahrheit in der Kunst ist, Wahrheit verstanden als das Erscheinen dessen, was ist, jenseits meines „Begriffs“ davon, jenseits meines Verfügens und meines Willens, es zu einem Zweck zu machen.
Es ist der Blick der Liebe, der geschehen lässt, was ich bei Martin Buber als Beschreibung künstlerischer Haltung formuliert gefunden habe: dem Lauschen, was durch sich selbst heraus wird.
Programmhinweis:
Am 24. September, 22.05–23.00 Uhr, wird im Programm Bayern 4 Klassik die letzte Sendung von Reinhard Schulz wiederholt: „Schmerzende Ohren? – Der Begriff Schönheit und die Neue Musik“