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Utopien eines messianischen Zustands

Untertitel
Ein Aufsatzband auf der Suche nach friedfertiger Musik
Publikationsdatum
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Frieden hören: Hinter diese Wortverbindung würde man wohl am ehesten ein Fragezeichen setzen. Denn wie soll das vor sich gehen: Frieden hören? Nicht so der Politikwissenschaftler und Friedensforscher Dieter Senghaas. Die 2003 beim Tübinger Institut für Friedenspädagogik erschienene CD-ROM mit kommentierten Musikbeispielen hat er mit einem Ausrufezeichen versehen: „Frieden hören!“, um im Untertitel freilich eine Einschränkung vorzunehmen: „Annäherungen an den Frieden über klassische Musik“. Die auf einer Radiosendung basierende Zusammenschau geht zurück auf seinen 2001 publizierten Suhrkamp-Band „Klänge des Friedens“, einen „Hörbericht“, in dem Senghaas, akribisch recherchiert und kundig, mit erfrischender Distanz zur akademischen Musikwissenschaft kommentiert, eine erstaunliche Fülle vorwiegend sinfonischer Werke unter dem Aspekt von Krieg und Frieden in einen gemeinsamen Kontext stellt.

Krieg und Frieden: Dass der Gegenbegriff sofort mitgedacht ist, dessen Abwesenheit ja die Grundbedingung für das Vorhandensein von Frieden ist, macht auch schnell die methodischen Schwierigkeiten klar, vor die sich die meisten Autorinnen und Autoren des nun vorliegenden, von Senghass gemeinsam mit Hartmut Lück herausgegebenen Sammelbandes gestellt sahen. „Vom hörbaren Frieden“ sollten sie wissenschaftliches Zeugnis geben, ohne dass historisch gewachsene Stilmerkmale oder gar ein Gattungsbegriff einer „Friedensmusik“ auszumachen wären. Das Genre der „Battaglia“ hat sich mittels Kriegsgetümmel und Schlachtenlärm von Jannequin über Beethoven bis Tschaikowsky seinen Platz als Forschungsgegenstand erkämpft, das pazifistische Pendant kann da als lexikalische Größe noch nicht mithalten.

Frieden in der Musik: So könnte eine erste Kategorisierung lauten, der die Aufsätze folgen. Musik also, denen ein zu vertonender Text (der Messe etwa), die Thematik einprägt und die ohne diesen Bezug wahrscheinlich nur sehr vage als Musik des Friedens wahrgenommen würde. Evá Pintérs Übersicht zu „Da pacem“-Vertonungen und Hartmut Möllers tiefer gehenden Überlegungen zu Beethovens Missa Solemnis und Bachs h-Moll-Messe gehen in diese Richtung, den Bereich der Popularmusik durchmisst Dietrich Helms („Ein bisschen Frieden hören“) mit kritisch-souveränem Blick.

Musik für den Frieden als Musik gegen den Krieg: Bezeichnenderweise gewinnen die Beschreibungen einzelner Werke oder Werkteile – Analysen im eigentlichen Sinne finden sich nur sporadisch – vor allem dort besondere Relevanz, wo eine Friedensbotschaft sich über den Umweg der Thematisierung von Krieg eine Stimme verschafft. Beinahe der komplette Opernbesuch durch Jörg Calließ steht unter diesem Vorzeichen („Frieden ist in der Oper nicht heimisch“). Und Stefan Hanheide muss am Ende seines Beitrags zu „Mahlers Musik im politischen Kontext“ feststellen: „Erst in der Umgebung von Kriegsklängen kann man bei Mahler politischen Frieden in der Musik entdecken.“ Vielfach ist es sogar so, dass eine „Friedensmusik“ nur ex negativo zu fassen ist, als besonders drastische und klar politisch motivierte Anklage gegen Krieg, Gewalt, sozialen Unfrieden, Rassismus. Ob nun Albrecht Dümling Eisler, Weill und Dessau oder Andreas Wehrmeyer Schostakowitsch daraufhin befragt, ob Peter Schleuning eine stichhaltige Umdeutung der „Eroica“ präsentiert, oder Hanns-Werner Heister und Hartmut Lück musikalische Aufschreie gegen Hunger und Angst beziehungsweise angesichts historischer „Orte des Schreckens“ zusammentragen: es ergibt sich die paradoxe Situation, dass in etwa in der Hälfte der Aufsätze der Krieg das eigentliche musikalische Thema ist. So verdienstvoll diese über Senghaas’ bisherige Arbeiten weit hinausgehende Sichtung des Materials auch ist (ein Register wäre freilich hochwillkommen gewesen), es beschleicht einen immer wieder das Gefühl, dass dies noch nicht zum Kern der Fragestellung vordringt.

Musik als Frieden: Claus-Steffen Mahnkopf und Martin Geck ist es vorbehalten, in ihren sich konstruktiv ergänzenden Essays den Blick von oben zu wagen. Mahnkopf fasst den Friedensbegriff abstrakter, indem er ihn mit der Idee des Messianischen bei Bloch, Adorno und Benjamin in Spannung setzt. Was abgehoben und verkopft anmuten könnte erweist sich als eben jener Blick über das abgegrenzte Feld hinaus, als jene Erweiterung des Horizonts, der auch einer Musik eigen sein muss, die mehr sein will als eine Beschreibung oder Beschwörung von Frieden. Einer Musik, die selbst zur Utopie eines messianischen Zustands werden kann, sofern sie – so Mahnkopfs Kategorie – mittels Zeitdehnung „einen Darstellungs- und Erlebnisraum zu öffnen“ vermag, „der sich von der überbietungsdynamischen Ökonomie der Gegenwart (…) distanziert und damit dem Rezipienten Zeit gewährt, die ihm sonst nicht vergönnt würde und es ihm ermöglicht, die Dinge in neuem Lichte zu betrachten“. Mahnkopf sieht dies bei Cage, Feldman, Lachenmann, Nono und Klaus Huber realisiert; spannend wäre es nun gewesen, hätten Hartmut Lück und Max Nyffeler in ihren Beiträgen über die beiden Letztgenannten Gelegenheit gehabt, diese These zu diskutieren. Indirekt wird Mahnkopfs Reflexion von Martin Geck ergänzt. Er benennt die Voraussetzungen auf der Rezipientenseite dafür, dass Musik als „schöpferische Idee eines gesellschaftlichen Gefüges, das mit Konflikten lebt, ohne sich selbst zu zerstören“, wahrgenommen wird: „Sorgen wir dafür, dass sie nicht bewusstlos oder passiv, sondern auf eine Weise gehört wird, die menschheitserhaltende Ideen generiert.“

Insgesamt zeigt dieser Band, in dem überdies die Komponisten Hartmann, Yun und Henze berechtigten Raum einnehmen sowie die Themenbereiche Schlachtmusiken, Vereinnahmung von Musik zu nationalistischen Zwecken, Friedenslieder seit dem 19. Jahrhundert sowie Aspekte der Weltmusik eingekreist werden, welche Relevanz eine Musikwissenschaft immer dort gewinnen kann, wo sie sich mit Fragen beschäftigt, die (scheinbar) über den Forschungsgegenstand hinausweist. Dieter Senghaas ist dafür zu danken, diese Fragen gestellt zu haben.

Vom hörbaren Frieden, hg. von Dieter Senghaas und Hartmut Lück, Edition Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2005, 606 S., € 14,- ISBN 3-518-12401-3

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