Ich verhehle nicht: Diese Ehrung ist mir eine besondere Freude. Fällt sie doch aus dem Rahmen, in dem sich ein Politiker normalerweise bewegt. Es geht um Kunst, der Politiker gewöhnlich fern stehen – abgesehen von den wenigen Kulturpolitikern in unseren Parlamenten. Hier im speziellen geht es gar um die neue, die zeitgenössische Musik, die es im Reigen der zeitgenössischen Künste besonders schwer hat.
Ich danke meiner Frau Renate, ohne die ich die Nähe zur Musik und zu denen, die heute komponieren, interpretieren und darüber schreiben, nie gefunden hätte. Als aktive „Musikfachfrau“ mit Schwerpunkt im Zeitgenössischen hat sie zu meinem Verständnis für die Neue Musik wesentlich beigetragen. Allerdings habe ich in Köln in frühen Jahren bereits das eine oder andere Konzert der legendären WDR-Reihe „Musik der Zeit“ besucht und auch Konzerte des Gürzenich Orchesters, damals noch unter der Leitung von Günter Wand, der regelmäßig das Werk eines Zeitgenossen zu Gehör brachte, und, wenn das Publikum unwillig reagierte, es dann auch schon mal wiederholte. Die lebendige Kunstszene der 60er-Jahre in Köln öffnete meine Ohren unter anderem für Stockhausen, Kagel und Bernd-Alois Zimmermann. Aber erst meine Frau, die damals schon aktiv in der „Szene“ tätig war und viele Musikprojekte initiiert hatte, in denen zeitgenössische Musik eine wichtige Rolle spielte, brachte mich Anfang der 90er-Jahre mitten hinein in das Geschehen der Neuen Musik. Seither besuche ich regelmäßig die Donaueschinger Musiktage und andere Neue Musik-Festivals wie die Kammermusiktage in Witten, das Eclat Festival in Stuttgart, sowie in Berlin Veranstaltungen von Ultraschall und MaerzMusik. Akteure der Neuen Musik sind feste Größen in unserem Freundeskreis. So fühlen wir uns in Köln auch eng verbunden mit den Aktivitäten des Ensemble Musikfabrik, insbesondere mit der sehr erfolgreichen Reihe „Musikfabrik im WDR“, in der im Juni 2016 neue Werke von Mark Andre und Adrian Nagel aufgeführt werden, beides Aufträge der „Gerhart und Renate Baum-Stiftung“, initiiert anlässlich meines 80. Geburtstags vor drei Jahren.
Neugier und Interesse
Ich bekomme also eine Ehrung für – könnte man verkürzt sagen – ein immerwährendes neugieriges Interesse an einer Kunst, an einer vorher nicht gehörten Musik, die immer ein Abenteuer verspricht, die mich bereichert, anregt, aufregt und manchmal – zugegebenermaßen – auch gleichgültig lässt. Ich bedauere alle diejenigen, die sich dieser wenn auch manchmal anstrengenden Kunsterfahrung nicht aussetzen. Das Interesse vor allem junger Menschen allerdings wächst, so mein Eindruck. Insbesondere wenn man den Publikumsandrang in Donaueschingen betrachtet, alle Konzerte sind ausverkauft. Dank auch einer vorbildlichen Vermittlungsarbeit. Aus eigener Erfahrung weiß ich, wie wichtig diese ist. Das Neue in der Musik darf keine einmalige, dann womöglich abschreckende Erfahrung sein. Ein kontinuierlicher Prozess muss es sein, in den interessierte, neugierige Menschen einbezogen werden. Meine Erfahrung ist auch, dass Bekanntes, Klassisches mit dieser neuen Hörerfahrung anders wahrgenommen wird, und auch, dass Interpreten mit Spielerfahrung in der Neuen Musik etwa Beethovensonaten anders interpretieren. „Happy new Ears“, um John Cage zu zitieren, kann ich nur jedem wünschen.
Kulturpolitik
Mit dieser Ehrung soll auch meine Rolle als Kulturpolitiker gewürdigt werden. In der Tat: der war ich während meines gesamten politischen Lebens, bis heute. Aus tiefster Überzeugung. Ich hatte kulturpolitische Verantwortung im Rat der Stadt Köln in den 60er-Jahren, als Innenminister des Bundes, der damals auch Kulturminister war, als Mitglied des Bundestages und heute in einer Reihe von ehrenamtlichen Funktionen, unter anderem als Vorsitzender des Kulturrats NRW und als Kuratoriumsvorsitzender von „Musik der Jahrhunderte“ in Stuttgart. Ich habe mich immer orientiert an der unmissverständlichen Aussage des Bundesverfassungsgerichts, dass unser Staat als Kulturstaat die Pflicht hat, die Kultur nicht nur gegen staatliche Einflussnahme zu schützen, sondern – und das ist entscheidend – die Kultur auch hinreichend zu fördern. Das ist, wenn man so will, das viel diskutierte „Staatsziel Kultur“, ohne dass dieses ausdrücklich in der Verfassung steht. Zur Aufgabe des öffentlichen Rundfunks auf dem Felde der Kultur hat das Gericht darüber hinaus festgestellt, dass auch das gefördert werden muss, was mit hohen Kosten produziert nur eine Minderheit der Rundfunkteilnehmer erreicht. Das ist eine klare Absage an die Quote, an der sich unsere Sender heute so verschlucken, dass sie darüber mitunter vergessen, warum sie überhaupt gegründet worden sind.
Wolfgang Rihm hat in einem Gespräch mit mir in der Süddeutschen Zeitung im Jahre 2004 festgestellt, dass Pop und Entertainment unangefochtene Werte der Gesellschaft sind, „die Staatskunst“ von heute. Treffend finde ich auch seine Feststellung, dass wir offensichtlich Rundfunkgebühren „für unsere Unterforderung“ bezahlen. Trotz aller Kritik: wir haben keine amerikanischen Verhältnisse, wo der Kunstgeschmack Privater dominiert. Grundsätzlich ist sich der Staat und auch der öffentliche Rundfunk seiner Verantwortung bewusst. Die Entwicklung der Neuen Musik in den letzten 70 Jahren wäre ohne diese öffentliche Förderung überhaupt nicht vorstellbar gewesen – und das gilt auch heute noch.
Ich fühle mich bis heute in der Pflicht, Einfluss auf Rahmenbedingungen zu nehmen, ohne die Kunst nicht gedeihen kann. Die aktuellen Medien sprechen und schreiben in der Regel nur über das Produkt, also über die Inszenierung, das Konzert, selten über die Haushaltssituation von Bund, Ländern und Gemeinden, die das schleichende Abschmelzen von Kulturausgaben bewirkt, Ausgaben, die ja freiwillig sind und auf keiner gesetzlichen Grundlage beruhen. Es gibt Ausnahmen: die Vernichtung des gerade auf dem Felde der Neuen Musik traditionsreichen SWR-Orchesters Baden-Baden/Freiburg, ein Akt der Barbarei, nur, um im reichen Land Baden-Württemberg sechs Millionen Euro im Jahr einzusparen, als handele es sich um die Zusammenlegung zweier Marmeladenfabriken. Diese einsame Intendanten-Entscheidung fand große mediale Aufmerksamkeit – aber der Protest blieb leider erfolglos. Nur wenige Politiker hatten sich an ihm beteiligt, vor allem fehlte die Stimme der Landespolitik. Unvergessen ist mir der zornige bis zu seinem Tode unbeirrte Kampf gegen diese Ungeheuerlichkeit von Gerhard Rohde, veröffentlicht vor allem in dieser Zeitung.
Mensch als kulturelles Wesen
Wir müssen den Menschen als kulturelles Wesen begreifen und dem kreativen Potential, das in jedem von uns steckt, Raum für Entwicklung geben. Das meint Beuys, wenn er sagt „Jeder Mensch ist ein Künstler“. Helmut Lachenmann, der gerade 80-jährige, der mir als Mensch und Künstler immer vertrauter geworden ist – für mich unvergessen die Uraufführung seiner Oper 1997 in Hamburg und in späteren Inszenierungen – bringt das so zum Ausdruck: „Kunst appelliert in ihren intensivsten Ausprägungen an jene Geistfähigkeit des Menschen, ohne welche die Demokratie als manipulierbar suspekt bleiben wird. Dabei sehe ich keine andere ernst zu nehmende Möglichkeit für die Kunst, auf den Menschen beziehungsweise auf die Gesellschaft einzuwirken, als diejenige, durch die Radikalität ihrer geistgeladenen Sinnlichkeit den Menschen an seine Bestimmung als geistfähiges Wesen zu erinnern, zu gemahnen, so dass er von dort her sich und seine Wirklichkeit reflektiert.“ Eine Gesellschaft, die das nicht begreift, verdorrt. Künstler haben eine besondere Sensibilität, eine Vision für gesellschaftliche Entwicklungen. Und diese brauchen wir besonders in einer Zeit, die extrem auf ökonomische Effektivität angelegt ist.
Man hat diesen Preis auch mit meinem lebenslangen Einsatz für die Freiheit begründet. Dafür danke ich. Meine liberale Position war immer umstritten, umso mehr freue ich mich über jede Ermutigung. Das Grundproblem ist, im Kampf um Freiheitsrechte darf man das berechtigte Bedürfnis der Menschen nach Sicherheit nicht aus dem Blick verlieren. Wie leicht unterliegt man dann aber aus Angst der Verführung zur Unfreiheit. Nach dem Angriff auf das World Trade Center 2001 und all den nachfolgenden terroristischen Akten ist die Angst vor neuen Bedrohungen ständig gewachsen und der Ruf nach Sicherheitsmaßnahmen ist lauter geworden. Aber Angst war immer ein schlechter Ratgeber. Wir können das Risiko zwar mindern, aber nicht beseitigen. Vor allem sollten wir uns davor hüten, die Menschenwürde als tragendes Prinzip unserer Verfassung einem Sicherheitswahn zu opfern. Das Bekenntnis zur Menschenwürde ist die Reaktion auf die schreckliche Barbarei des letzten Jahrhunderts und ist in der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ von 1948 und im Artikel 1 unseres Grundgesetzes festgeschrieben: Die Würde des Menschen ist unantastbar! Was keine Revolution in Deutschland je vermocht hat, hat das Grundgesetz erreicht: Wir leben heute in einer weitgehend „geglückten“ Demokratie. Trotz großer Herausforderungen in aller Welt müssen wir unsere Verfassung leben, gerade dann, wenn es stürmt, gerade auch jetzt, wo sich in der Diskussion über die Aufnahme von Fremdem Abgründe auftun. All diese Entwicklungen, all diese Fragen haben natürlich Auswirkungen auch auf die Freiheit der Kunstausübung. Die Kunst, sie war immer schon global und auf Freiheit angelegt, sie war und ist grenzüberschreitend. Nutzen wir ihre Impulse – gerade jetzt.
Ich danke Ihnen, Herr Hoyer, Herr Hildebrandt, und Ihren Kollegen für diese Auszeichnung. Sie bedeutet für mich Ermutigung, mich weiterhin einzumischen. Ich möchte meinerseits auch alle diejenigen ermutigen, die oft gegen Widerstand und oft unter Selbstausbeutung sich für unsere gemeinsame Sache einsetzen. Sie verdient es.