Wer war Manfred? Genau nachzufragen liegt nahe angesichts des Namensgebers von zwei bedeutenden Kompositionen des 19. Jahrhunderts – Robert Schumanns „Manfred“-Musik und Peter Tschaikowskys „Manfred“-Sinfonie. Gerade aber, wenn die Nachfrage auf genau definierte Identität und klare Konturen des Helden ausgeht, wird sie ihn verfehlen.
Manfred werden in Byrons „dramatic poem“ so viele symbolische Kontexte aufgebürdet, dass für den bei einer Bühnenhandlung unerlässlichen Realismus wenig Platz bleibt, dass er dessen aber auch kaum bedarf: Jedes romantisch-melancholische Gemüt, jedes zerrissene Herz, jedes Bewusstsein irgendeiner untilgbaren Schuld soll sich in ihm erkennen und an der „düsteren Glut einer grenzenlosen reichen Verzweiflung“ (Goethe) wärmen können. Manfred ist mehr Sprachrohr als Sprechender, mehr Kollektivwesen als Individuum, ein mixtum compositum ganz und gar: Den Namen hat er von einer Figur aus Horace Walpoles Schauerstory „The Castle of Otranto“, Goethes Werther und seine egomane Selbstquälerei haben an ihm teil und das Faszinosum des in „ewige Verdammnis“ stürzenden Engels, die suggestive Psychologie des Antihelden und die stolze Verweigerung eines finalen Zu-Kreuze-Kriechens, romantisch verbogener Titanismus sowie die ahasverische Verfluchung zu ewiger Wanderschaft und zu einem, obwohl unbändig gewünschten, bis ans Ende der Tage hinausgeschobenen Tode; im inzestuösen Verhältnis zur eigenen Schwester Astarte, welche im Reiche des Geisterfürsten Arimanes als todverheißendes Gespenst beschworen wird, bringt Byron überdies eigene Biografie unter.
Überdosis Subjektivität
Derlei Vermischung, die letztgenannte zumal, stimuliert das auf Verschlüsselungen ausgehende Interesse auf Kosten des ästhetischen – das gilt für Byrons Werk und dessen Wirkung insgesamt; er hat es gewusst und benutzt. Das Faszinosum der exzentrischen Persönlichkeit und der kometenhaften Lebenskurve bestimmte die Rezeption der Dichtung in einer Weise, welche vergessen machte, wie sehr es sie überstrahlte und künstlerische Maßstäbe außer Kraft setzte; so kann man von dramaturgischen und poetischen Mängeln des „dramatischen Gedichts“ Manfred – am ehesten mit Ausnahme lyrischer Passagen – angemessen nicht sprechen, ohne jene Überdosis an ungefilterter Subjektivität zu berücksichtigen, die immerfort sich eindrängt und mitredet.
Goethe, der Byron im Jahre 1819 „den einzigsten großen Dichter jetziger Zeit“ nannte, ist der Kronzeuge; dass das Publikum seine Rezension noch flüchtiger las als er diesen, hat mitgeholfen, „Manfred“ missverständlich zum „englischen Faust“ zu nobilitieren. Gewiss wurde Goethe jene „düstere Glut einer grenzenlosen (…) Verzweiflung am Ende lästig“, und er hat genau gesehen, dass „die Lebens- und Dichtungsweise des Lords Byron (…) kaum gerechte und billige Beurteilung (…) erlaubt“; andererseits blieb ihm „der Verdruß (…) immer mit Bewunderung und Hochachtung verknüpft“, sodass er eine Dichtung als „wunderbare, mich nah berührende Erscheinung“ bezeichnen konnte, welche ihm ohne Bezug auf den Urheber und, von einem gleichaltrigen Deutschen geschrieben, gewiss als modische Koketterie mit weltflüchtig-verzichtenden Stimmungslagen missfallen hätte.
Die der poetisch-dramaturgischen Durchgestaltung schwer zugängliche Grauzone, in der biografische und ästhetische Erklärungsversuche auf je verschiedene Weise steckenbleiben, ist sie nicht von vornherein eher eine Domäne der Töne als der Worte? – spezieller gefragt: Rufen nicht zum Beispiel jene Bremsungen eines dramatisch dynamisierten Zeitverlaufs, welche Byron selbst an den Qualitäten des Stückes zweifeln ließen (Belege unter anderem in dem ausgezeichneten, mit etlichen der hier behandelten Fragen befassten Aufsatz von Luisa Zanoncelli: „Von Byron zu Schumann oder Die Metamorphose des ,Manfred’“. In: Robert Schumann, Musik-Konzepte, Sonderband I, München 1981, S. 116–147) nach der den handlungstreibenden Vorangang sistierenden, von ihm abgehobenen Zeitlichkeit der Musik? Das betrifft nicht nur die lyrischen Verweilpunkte, welche es leicht machten, „Musik“ als „die höhere Potenz der Poesie“ – so formulierte Schumann in den Tagebüchern (Band I, Leipzig 1971, S. 96) – zu bewähren; das betrifft schon die szenischen Orte, von denen her Tschaikowsky die vier Sätze seiner Sinfonie konzipieren und ausladend dimensionieren konnte, Symbolorte viel mehr als handlungsbedingte Durchgangsstationen: Mitternacht in gotischem Gemäuer, Hochgebirge am Morgen, ländliches Anwesen in den Berner Alpen, Wasserfall, der Thronsaal des Geisterfürsten Arimanes, Gebirgsgegend zur Dämmerstunde mit Manfreds Burg im Hintergrund et cetera. Derlei musste Musiker einladen schon vor allen ins Persönliche treffenden Identifikationsangeboten.
Gattungen neu erzeugen
Dass einer wie Byron im „Manfred“ mit gattungsbezogenen Bestimmungen haderte, musste Schumann sympathetisch entgegenkommen, welcher gerade noch mit wenig genre-konformen Vorhaben wie „Das Paradies und die Peri“ und „Genoveva“ beschäftigt gewesen und überhaupt, wo immer möglich, der Prämisse gefolgt war, Formen bzw. Gattungen jeweils aus dem Stoff und dessen Erfordernissen neu zu erzeugen – nicht wenige seiner Werke lassen sich als Plädoyers für Zwischengattungen verstehen. Im Übrigen muss die besondere Zuständigkeit des Musikers für jene Grauzone verlockt haben, die Aussicht, dem Stoff etwas zuzubringen (nicht: hinzuzufügen, eher schon: zurückzuerstatten), über das der auf’s Wort eingeschränkte Dichter nicht verfügt, worauf er bestenfalls in den lyrischen Einlagen neidisch hinausschaut.
Freilich kann Schumann die im Sprechdrama nur partiell erreichbare Osmose bzw. wechselseitige Vertretung von ästhetischer Objektivität und subjektiven Momenten nur innerhalb der Musik erproben, er muss den in Worten nicht vollständig aufgehobenen Manfred ohne sie, in der Musik aufsuchen. Dafür nimmt er eine – nicht wertend zu verstehen – qualitative Differenz zwischen den dem Handlungsgang botmäßigen Inzidenzmusiken und einer Ouvertüre in Kauf, die auf ihre Weise bereits den ganzen Manfred enthält und unter diesem semantischen Druck zu seiner dichtesten Partitur und der als Konzept und in der Materialität der Mittel kühnsten ihrer Zeit geworden ist.
Die Gattung bzw. Form möglichst voraussetzungslos aus dem Stoff je neu zu erzeugen – das bedeutete vor allem, die Vermittlungen zwischen beiden ständig offenzuhalten und je neu zu befragen, einerseits die Gewähr des dialektischen Sonatenkonzepts nicht auf’s Spiel zu setzen, andererseits jeder Vergegenständlichung zu autonom agierenden Motiven, Themen oder Formabschnitten zu wehren, mit anderen Worten: möglichst jedes Detail daran zu hindern, entweder nur das eine – Struktur – oder das andere –„Programm“ – zu sein. Motive, Themen und Formabschnitte lassen sich bei oberflächlichem Hören leicht erkennen, dem näheren Hinblick indessen entziehen sie sich mindestens in jener Identität, welche von der Form her bestimmt wird. Nach einer Introduktion und hinführendem Accelerando steht das erste Thema („In leidenschaftlichem Tempo“, Takt 26) zwar am richtigen Platz, Thema im Sinne einer halbwegs autonomen, von einer weniger thematischen Umgebung abgehobenen Gestalt jedoch ist es nicht, mehr Ansatz zu einer Formulierung als selbst eine solche, zugleich Vehikel einer crescendierenden Entwicklung und harmonisch weitab von der Konsolidierung einer Haupttonart – und wenn, dann der „falschen“, es-Moll statt Es-Dur (Notenbeispiel 1).
Notenbeispiel 1: Takt 26 ff.
Weil das zweite Taktpaar das erste wiederholt und die Musik, ehe etwas – etwa im Sinne von Vorder- und Nachsatz – ausformuliert ist, zu Fortspinnungen weitertreibt, reduziert sich der thematische Kern auf die Synkopierung und den signalhaft punktierten Dreiklang (das wiederholt sich beim zweiten Erscheinen). In einem von dieser Musik geforderten weitergreifenden Verständnis thematisch erscheinen, eher als die Prägung selbst, die Momente, die sie daran hindern, sich vollständig auszuformulieren – die treibende Unrast, das Fortstreben zu immer neuen Komplexionen.
Notenbeispiel 2: Takt 52 ff.
Nicht anders das zweite Thema (Notenbeispiel 2) – mehr ein leidenschaftliches, in Sequenzierungen sich drehendes Singenwollen als selbst Gesang, welches, fortwährend modulierend, einen eigenen harmonischen Bezugspunkt nicht findet und dort, wo es zu konsolidierenden Ballungen kommt – beide Male in zweimal zwei Takten (62–65, 70–73) –, von diesen rasch wieder fortgetrieben wo nicht fortgerissen wird (Notenbeispiele 3 und 4).
Notenbeispiel 3: Takt 62 ff.
Notenbeispiel 4: Takt 70 ff.
Dieses geschieht dreimal auch in der „Durchführung“ (Takte 132 ff., 154 ff., 170 ff.), wo seine kantable Dynamik endlich ans Ziel gelangen, endlich sich erfüllen, endlich sich aussingen kann. Nicht zuletzt die harmonisch weit auseinander liegenden Bereiche cis/Cis, Gis, B und F, in denen das geschieht, machen die Durchführung eher zu einem überschnell gedrehten Kaleidoskop bzw. unrastigem Durcheilen von Extrempositionen als zu einem Arbeitsort im Sinne der Sonatendialektik.
Programmatische Aufladung
Deren Reglements freilich geben hier wenig vor; insofern erscheint nicht erstaunlich, dass das Programm sich vordrängt. Zuvor (Takt 96) scheint in einer harmonisch besonders gewagten Passage und mit einem unisono zerflatternden Motiv nicht nur die Exposition, sondern die Musik überhaupt an ihr Ende gekommen – dem in Arimanes’ Reich der geisterhaft beschworenen Astarte gegenüberstehenden Manfred entsprechend, welcher um ein erlösendes Wort fleht. Dieses erhält er auch, bei Byron gar knapper als bei Schumann: als Todverkündigung (gäbe es nicht eine althergebrachte Typologie von Ombra-Szenen, würde man das Gegeneinander von stehenden Bläserklängen und raunenden Bässen im zweiten Akt von Wagners „Walküre“, 4. Szene, als von hierher kommend vermuten).
Notenbeispiel 5: Takt 132 ff. Notensatz: Dirk Jaehner
Den nachfolgenden Sturz ins inständig singende Appassionato („Mit großer Kraft“, Takt 132 ff., Notenbeispiel 5) und jenes überschnell gedrehte Kaleidoskop erlebt man nun, nach der Todverkündigung, im Zeichen der „gestundeten Zeit“, eines gerade noch gewährten Lebensüberschusses und findet sich zu Beginn der Reprise bestärkt, wo Schumann den Vortrag des ersten Themas, entgegen der sonatengemäß stärkeren Konvergenz, drastisch schärft – die programmatische Aufladung der Durchführung mag ihm die beim Reprisenbeginn allemal drohende Tautologie besonders deutlich vor Augen gestellt haben.
Am ehesten zollen der harmonische Ansatz im Tonartbereich B und 32 mit der Exposition verlaufsgleiche Takte jener Konvergenz Tribut und prätendieren mehr Rückbezüglichkeit, als die Situation der gestundeten Zeit gestattet. Zum einen freilich kann Schumann darauf vertrauen, dass die Wiederholung nach der Todverkündigung noch weniger als sonst in Musik wiederholen, eher nur noch erinnern kann. Zum anderen liegt der um B zentrierte Komplex im Vorfeld des „Schlusschorals“ und seines unabgelenkt durchgehaltenen es-Moll, im gesamten Stück der einzigen längeren, von modulatorischen Zwängen nicht behelligten, zugleich bewegungsmäßig homogenen Passage. Das lässt sie und ihr es-Moll als von vornherein anvisierten Fluchtpunkt bzw. als von vornherein supponierte, nicht notierte Tonart erscheinen. Schumanns subtile Architektur hat schon zu Beginn der Ouvertüre in diese Richtung gewiesen: Nach dem dominantisch-plagal aufreißenden ersten Takt und zwei Trugschlüssen (Takte 2 und 6) kommt es im Übergang vom siebenten zum achten Takt zu der in der Einleitung einzigen, zudem durch Trompete und Pauke unterstrichenen V-I-Kadenz; und diese ist mit dem erstmalig erscheinenden Hauptthema verbunden und führt nach es-Moll.
Dass am Stückbeginn das Tempo nach nur einem Takt und einer Fermate extrem umschlägt, bleibt auch dann noch ungewöhnlich, wenn man hier einen zerrissenen Charakter exponiert und die Fermate durch die Terzabgänge der Bässe überbrückt, die kontrastierenden Komplexe mithin strukturell verklammert sieht – um so mehr, als im zweiten Takt zum Abgang der chromatische Aufgang a-b-ces hinzutritt und eine Grundbefindlichkeit dieser zähflüssigen, chromatisch infizierten Musik anzeigt – keiner neutralen tabula rasa, in die die Intention sich widerstandslos eintragen kann, eher schon einer vorausgesetzten eigenwilligen Materialität, der die motivisch-thematischen Prägungen mühsam abgerungen werden müssen; nur bei diesen gewährt das schwergängige Geschiebe diatonische Durchblicke.
Ästhetische Gratwanderung
Die Suggestivität dieser Musik im Sinne der von Goethe empfundenen „düsteren Glut“ bzw. von Manfreds kategorischer Lebens- und Weltverachtung lässt sich auf ihn zu direkt beziehen, als dass man, wie immer das „Sonaten-Allegro“ aus ihr hervorwächst, dieses im Vergleich nicht doch als den vor die Figur geschobenen Filter einer stärker eigenbestimmten Musik empfinden würde. Zur Osmose „absoluter“ und „programmatischer“ Maßgaben gehört auch, dass die Anteile schwanken, und zur Glaubwürdigkeit der ästhetischen Gratwanderung gehört, dass sie das reflektiert. Wenn die Einleitung die nur irgend erreichbare Kongruenz von Gegenstand und Musik, mithin den für dieses Stück verabredeten Realitätsgrund darstellt, dann muss die überhöhende Sonate, wie immer Schumanns osmotische Bemühungen die Verselbständigung zur Meta-Ebene zügeln, zu ihr zurück.
Dergestalt vereinen sich im „Hinlaufen zum Tode“ ästhetische Zwänge und solche des Sujets. Als auf Synthese und Resultat hinarbeitender Prozess kann die Sonate schon den es-Moll-Choral, welcher unter anderem die Unmöglichkeit der Synthese attestiert, nicht „wollen“; aber auch bei ihm darf es nicht bleiben: Wenngleich verschattet, verspricht in ihm die Musik doch – schon, weil nun sich aussingend – einen „Epilog im Himmel“, i.e. Erlösung. Diese muss nicht unbedingt theologisch, sondern nur als Erlösung in die Musik hinein verstanden werden, um wie von außen herangebracht und vom Medium Musik verschuldet zu erscheinen. Tschaikowsky veranstaltet an der entsprechenden Stelle triumphierenden Orgelschwall in C-Dur („Grand jeu“) und mag bei der nachfolgenden Rettung des Sujets gegen die Veranstaltung auf den diskreteren Schumann geblickt haben. Dieser lässt den Choral versinken, kehrt zum Realitätsgrund der Introduktion zurück und kann dort auf eine Weise verlöschen, welche auch die vage verhießene Erlösung im Nachhinein ohnmächtig erscheinen lässt.
In der Manfred-Ouvertüre, neben ihr am deutlichsten in der Rheinischen Sinfonie, erscheinen ein geschichtlicher Augenblick, eine Chance komponiert, welche die Polarisierung „absoluter“ respektive „programmatischer“, „akademischer“ respektive „neudeutscher“ Orientierungen leicht übersehen lässt – die Möglichkeit, dass die alsbald polemisch auseinandergetriebenen Orientierungen, wie zuvor unter dem Dach der „poetischen Idee“, näher beieinander geblieben wären und, wie Schumann vorführt, einander zugearbeitet hätten. Es gibt genug Gründe dafür, diese Möglichkeit als Fiktion und das Schisma als historisch notwendig anzusehen. Mit Blick insbesondere auf Schumanns Manfred-Ouvertüre lässt sich ihnen die Einsicht anfügen, dass es exorbitanter Anstrengungen und schwer durchzuhaltender Standards bedurfte, um im Fadenkreuz zweier zunehmend konträrer Ästhetiken zu bestehen.