In allen Stilen ist sie zu Hause, der Gegenwartsmusik fühlt sie sich besonders verpflichtet: die Geigerin Carolin Widmann. Juan Martin Koch hat mit ihr über die Außenwahrnehmung der Klassik, den Hochschulalltag und das Neue-Musik-Netzwerk gesprochen.
neue musikzeitung: Sind Sie froh, dass Sie nie einen Klassik-ECHO bekommen haben?
Carolin Widmann: (Lacht.) Bei mir stand das nie zur Debatte, weil ECM da ja nicht mitmacht. Das fand ich schon immer eine gute Entscheidung. Ich habe die Diskussion verfolgt und habe mir dann auch das Video von Farid Bang und Kollegah angesehen. Ein mindestens genauso großer Skandal wie der Text, ist die Tatsache, wie wahnsinnig schlecht die Musik ist, die heute produziert, verkauft und geliebt wird. Darüber müsste man mal diskutieren, wo wir uns ja gerne als Kulturnation brüsten. Es ist erschütternd, was da prämiert wird.
nmz: Wie müsste so ein Preis für den Klassikbetrieb aussehen? Braucht es so etwas überhaupt?
Widmann: Ich fände es sehr wichtig, weil ich merke, dass wir gar nicht vertreten sind in der Wahrnehmung. In der Zeitung wird immer weniger über die Musik geschrieben, die wir lieben. Wir sind aber ein großer Teil der Gesellschaft! Ungefähr so viele wie es FDP-Wähler gibt … Welcher Politiker hat denn im Wahlkampf gesagt: Wir unterstützen die Kultur – kein einziger! Das macht mich sehr traurig. Ein solcher Preis müsste ins Fernsehen, aber so, dass einmal nicht das Massentaugliche im Vordergrund steht, sondern das, was die Künstler machen wollen. Mit Entsetzen habe ich die Sache mit der Jazz-Saxophonistin Anna-Lena Schnabel mitbekommen, die dann bei der Show ihr Stück nicht spielen durfte. Das zeigt die ganze Perversion. Eine Stunde Sendezeit und die Künstler dürfen machen, was sie wollen – das wäre mal ein Statement! Das Anbiedern und das sich rückwärts verbeugen, das wird nix, da wird die Klassik peinlicher als sie ist, und wird keinen einzigen neuen Zuhörer gewinnen.
nmz: Im Zusammenhang mit Rebecca Saunders’ Violinkonzert haben Sie davon gesprochen, man müsse sich dem Hören wieder hemmungslos ausliefern. Was heißt das genau?
Widmann: Wir sind die erste Generation, die immer alles hören kann: jede Epoche, jedes Stück … Dadurch wird das Hören taub. Es ist nichts besonderes mehr, einen bestimmten, vor 200 Jahren bahnbrechenden Akkord zu hören, weil ich dessen Sprengkraft gar nicht mehr einordnen kann. Das meinte ich damit: Wieder dem zuhören, was da eigentlich passiert und nichts als gegeben hinnehmen. Auch C-Dur ist kein Wohlbefinden per se. Mit frischen Ohren, die alles noch nicht gehört haben, nochmal hinzuhören und sich dem hinzugeben, was das mit uns tut. Wenn man das wiederentdeckt, ist es sensationell.
nmz: Ist das eine Aufgabe für zeitgenössische Komponisten?
Widmann: Ja, aber das kann ja nicht einseitig sein. Auch im Zuhörer muss sich etwas verändern. Wir müssen verstehen, dass es viel mehr wert ist als die Subventionen und das Eintrittsgeld: Man bekommt etwas, was in unserer Welt sehr rar geworden ist, noch dazu persönlich dargeboten, vor einer kleinen Zuhörerschaft! Wann gibt’s denn sowas noch? Das muss wieder einen Wert bekommen. Die Sehnsucht nach solchen Erlebnissen wächst wieder, glaube ich. Das Wort „Achtsamkeit“ hat vor zehn Jahren niemand gekannt, aber damit hat Musik auch zu tun: Wieder sensibel dafür werden, was da gerade passiert und was es für ein Privileg ist, diese Musik auf diesem Niveau hören zu dürfen. [Vor dem Café zieht eine Samba-Gruppe vorbei.] Da fällt mir ein, was mir kürzlich in der Bahn passiert ist: Da hörten zwei Gruppen junger Männer gleichzeitig Musik aus ihren Ghettoblastern und niemand sagte etwas! Ich habe sie dann gebeten, auszuschalten und hinterher bedankte sich ein älteres Ehepaar bei mir. Sie hatten Angst, zusammengeschlagen zu werden! Wie weit sind wir denn schon? Vielleicht müssen wir uns viel stärker einmischen, zeigen, wofür wir stehen, gerade in dieser Zeit, in der ständig über Grundwerte geredet wird.
nmz: Nochmal zurück zum „achtsamen Hören“: Wie steht es hier mit der Verantwortung der Interpreten?
Widmann: Ich versuche, mir da nicht zu viel Druck zu machen. Ich kann nicht beeinflussen, was mit dem Rezipienten geschieht. Ich weiß nur für mich selbst, dass ich mit zunehmendem Alter neben der natürlichen Nervosität immer mehr mit dem Gefühl auf die Bühne gehe, dass ich privilegiert bin.
nmz: Inwiefern hat das mit der zunehmenden Erfahrung zu tun?
Widmann: Wenn man in der Klassikausbildung ist, dann ist lange Zeit jeder Schritt ganz klar: „Jugend musiziert“, Aufnahmeprüfung, Wettbewerbsgewinne … Und worum geht’s? In der Geigenstunde wird besprochen, was alles gut war – aber: der Ton war unsauber, das muss leiser sein … Jetzt kommen so viele Dimensionen hinzu, die ich zumindest mit 16 noch nicht hatte. Heute weiß ich, dass auch, wenn ich einen Ton völlig verhauen würde, die Essenz des Schumann-Quintetts nicht zerstört wäre.
nmz: Seit über zehn Jahren sind Sie Violinprofessorin in Leipzig. Welche Veränderungen haben Sie in dieser Zeit beobachten können?
Widmann: Da hat sich einiges getan! Es hat sich mittlerweile herumgesprochen, dass man bei mir studieren kann. Anfangs war das etwas härter. Inzwischen habe ich Studenten, die mich inspirieren, die mir auch menschlich total entsprechen. Sie interessieren sich für alle Arten von Musik, sind sehr realistisch, was ihre Chancen betrifft, arbeiten unglaublich hart, bauen gleichzeitig aber kein Konkurrenzdenken untereinander auf. Der Hochschulalltag wird durch den gestiegenen Prüfungsdruck beschwerlicher. Dieses Über-Prüfen ist schrecklich! Sowohl für uns als auch für die Studierenden. Sie kommen gar nicht dazu, einmal in Ruhe etwas zu erarbeiten. Wenn ich bei jemandem einen technischen Ablauf ändern will, dann braucht das oft Zeit, ohne Prüfungen. Ich mache das aber inzwischen trotzdem, dann gibt es eben mal eine schlechte Note zwischendurch, man muss das längerfristig sehen.
nmz: Ist das Thema #MeToo an der Hochschule angekommen? Gibt es da eine erhöhte Sensibilität, konkrete Maßnahmen?
Widmann: An der Hochschule habe ich nichts mitbekommen. Natürlich weiß ich, dass in unserem Geschäft nicht alles koscher ist … Ich finde es wichtig, dass Menschen, die belästigt wurden, das publik machen und dass ihnen geholfen wird. Gleichzeitig habe ich Angst, dass ein Klima entsteht, in dem ein Mann erst einmal fragen muss, ob er die Schulter einer Schülerin anfassen darf, wenn es um das Armgewicht geht. Da wehre ich mich dagegen. Gerade das Geigespielen ist so körperlich! Ich gehe da auf die Studenten zu und mache das einfach, aber ich merke schon, wenn ich ein Mann wäre, dann könnte einem schon ein Strick draus gedreht werden. Wenn ich erst nachfragen muss, komme ich mir schon wie ein Belästiger vor.
nmz: Sie haben einmal von Ihrem Karrierestart bei den Römerbad Musiktagen erzählt, als unter anderem Wolfgang Rihm, George Benjamin, Pierre Boulez und Michael Haefliger im Publikum saßen und einiges in Gang kam. Jetzt sind Sie selbst im Kuratorium der Ernst von Siemens Musikstiftung ...
Widmann: Ja, das ist seltsam!
nmz: Ist die Neue-Musik-Szene einfach ein gutes Netzwerk, wo jeder jeden kennt, oder besteht nicht auch die Gefahr der Vetternwirtschaft?
Widmann: Für die, die das denken, bin ich natürlich der Vetter Nummer eins! Kann gut sein, dass das so wirkt. Ich merke aber, dass man oft gar nicht alle kennt. Die Stiftung arbeitet ja international und dann gibt es da auf einmal einen Typen in Sibirien, der ein Festival gründen will. Und wenn er etwas Überzeugendes liefert, bekommt er Geld dafür – das finde ich schon toll! Da kommt man aus einer Sitzung und weiß, man hat da zwei Millionen Euro ausgegeben, für ganz verschiedene Sachen, natürlich auch mal viel Geld für Etabliertes, aber auch kleine Beträge, wenn ein Veranstalter vorrechnet, wie viel das Frühstück für so und soviele Mitwirkende kostet … Wenn das Vetternwirtschaft sein sollte, dann bin ich gerne dabei!
nmz: Aber wenn dann die Preise und Aufträge an immer dieselben gehen, an die Schüler von immer denselben …
Widmann: Das stimmt, das nervt auch, vor allem, wenn es gar nicht mehr um die Musik geht, sondern es nur heißt: Der hat schon die und die Preise, jetzt bekommt er unseren auch noch. Bei der Auswahl der Förderpreisträger für nächstes Jahr kam mir aber keiner bekannt vor. Ich habe nur zugehört und zwei, drei waren so überzeugend! Ich lese mir bewusst zunächst nicht durch, was an Informationen zur Person dabei ist. Beim Hauptpreis ist klar, dass man sie kennt.
nmz: Und wie steht es um den Frauenanteil?
Widmann: Allein die Tatsache, dass es zwei neue weibliche Kuratoriumsmitglieder gibt, sagt schon etwas aus. Ich möchte mich andererseits nicht nur deshalb für eine Person einsetzen, weil sie eine Frau ist. Ich sehe natürlich, dass die Frauen sehr zu kurz gekommen sind, es war aber auch noch keine Zeit für sie. Jetzt erst kommen die vielen jungen Komponistinnen, die Dirigentinnen … Es geht langsam, aber bei den Förderpreisen sind immer Frauen dabei, nicht weil sie Frauen sind, sondern weil sie gut sind. Ich habe Angst, dass es beim nächsten großen Preis für eine Frau dann heißt, sie hätte ihn nur wegen ihres Geschlechts bekommen.
nmz: Arbeiten Sie gerade an einem neuen Stück?
Widmann: Als nächstes größeres Projekt steht die Uraufführung des Violinkonzerts meines Bruders Ende August an, mit dem Tokyo Metropolitan Orchestra, dann mit dem Orchestre de Paris und dem Swedish Radio Orchestra. Die nächste Saison wird unglaublich – als hätten sich die Götter zusammengetan: Debüt bei den Berliner Philharmonikern, beim Orchestre de Paris, beim RSB Berlin, bei den Solistes Européens Luxemburg …
nmz: Haben Sie da die Freiheit der Stückauswahl?
Widmann: Das ist gemischt, teilweise ist ganz klar, dass es das Mendelssohn-Konzert sein soll, und wenn ich es nicht mache, machen es andere. Oder sie wollen mich haben und fragen mich, was ich machen möchte. Vor allem bei den Sachen, die ich selbst von der Geige aus leite. Das liebe ich! Neulich hatte ich ein Projekt mit der NDR Radiophilharmonie Hannover. Mit Gleichgesinnten an etwas zu arbeiten, das ist so wunderbar! Die Proben sind knallhart, aber es entsteht etwas.
nmz: Kammermusik …
Widmann: Kammermusik, das ist doch das Schönste! Das war es ja auch früher, bevor diese Trennung kam in Orchester, Solist und Dirigent – letztlich ist es doch Kammermusik. Die Erfüllung, die da entsteht, ist das Größte.