Am 2. Mai 1927 veranstaltete die Berliner Novembergruppe einen denkwürdigen Konzertabend mit drei Klaviersonaten von Hansjörg Dammert, Stefan Wolpe und H. H. Stuckenschmidt. Die drei jungen Komponisten waren miteinander befreundet, weshalb sie gemeinsam ein ästhetisches Programm formulierten. Es handele sich bei diesen Sonaten um „eine Musik formal experimentellen Charakters, bei der das Thematische und Modulatorische zugunsten rein rhythmischer und dynamischer Gestaltung in den Hintergrund tritt.
Man kann auf diese Stücke am besten den Ausdruck ‚stehende Musik’ anwenden, da die formalen Spannungen und Entspannungen hier aus dem Prinzip der Wiederholung (im Gegensatz etwa zur Variation) entwickelt werden“. Wolpes Komposition beruht auf einem unablässig wiederholten Zentralklang, der sich im ersten Satz in furiose Bewegung auflöst und im zweiten Satz in Statik verfällt. Es sei damit beabsichtigt, hieß es auf dem Programmzettel, „den Begriff der musikalischen Zeit bis an die Grenzen des Möglichen zu analysieren“. Im Unterschied zum Entwicklungsprinzip Ludwig van Beethovens, dessen 100. Todestag gleichzeitig begangen wurde, inszenierten die drei jungen Wilden eine statische Revolution, einen Aufbruch durch Stillstand, der noch Jahrzehnte später seine Wirkung zeigte – etwa bei Wolpes Schüler Morton Feldman. Bei aller äußeren Motorik bleibt ein großer Teil von Wolpes Musik im Prinzip statisch. Das gilt ebenso für seine gänzlich untheatralischen Revuen „Zeus und Elida“ oder „Schöne Geschichten“ (1927-1929) wie für das „Piece of Embittered Music“ aus der „Zemach Suite“ (1939), das trotz hektischer Bewegung harmonisch auf der Stelle tritt. Auch die immens schwierigen „Enactments für drei Klaviere“ (1953) kreisen wie ein Mobile in sich, weshalb Austin Clarkson, Gründer und Präsident der Stefan Wolpe Society, sie mit dem Regenwald verglich: „Jede Stelle ist gleich dicht und gleich wichtig.“ Der Komponist analysierte den Begriff der musikalischen Zeit, um ihn außer Kraft zu setzen. Die Musik verwandelte er dabei von einer Zeitkunst in eine räumliche Kunstform wie Malerei und Skulptur. Ahnherr solcher Ideen war Erik Satie, auf dessen raumgreifenden Minimalismus Stuckenschmidt in Paris gestoßen war. Auch auf den Weimarer Bauhaus-Festen hatte er gemeinsam mit Wolpe Musik von Satie gespielt. Beide waren im Prinzip Autodidakten. Während aber Stuckenschmidt im Schönberg-Kreis Anschluss fand, blieb Wolpe, der sich vergeblich um die Aufnahme in die Busoni-Klasse bemüht hatte, sein Leben lang ein Außenseiter.
Individuum und Gruppe
Die Außenseiter-Rolle war möglicherweise eine Reaktion auf die frühe Ablehnung durch das musikalische Establishment. Man darf spekulieren, was aus Wolpe geworden wäre, wenn Busoni ihn als Schüler akzeptiert hätte. Statt dessen suchte er Anschluß an außermusikalische Kreise wie Dadaismus, Bauhaus, Arbeiterbewegung, Kibbuzim und die Malergruppe der Abstrakten Expressionisten. Gemeinsam mit Stuckenschmidt hatte Wolpe in Berlin eine interdisziplinäre Arbeitsgemeinschaft gegründet: „Wir machten die drolligsten literarischen Experimente, schrieben verrückte Texte gespickt mit hochtrabenden, meist selbstgebastelten Fremdwörtern, komponierten Schlager mit atonaler Harmonik und zwölftönigen Melodien, entwarfen neue ästhetische Weltanschauungen und dergleichen mehr.“ 1929 schloss er sich der Arbeitermusikbewegung an. Wie Eisler wurde er musikalischer Leiter einer AgitpropTruppe, für die er Lieder und Songs komponierte. Enthusiastisch notierte er damals in sein Tagebuch: „Die Kunst besteht in einer grandiosen Umwandlung des populären Musik-(Melos-)Materials. Die Selbstaufhebung der Schlagercharaktere durch den neuen proletarischen Vitalismus. Eine Musik, die imstande ist, diesen realistischen Vitalismus des Proletariats musikalisch auszudrücken, kann niemals selbst in einfachster tonaler Struktur ausdruckslos sein.“ Das Prinzip einer stehenden Musik konnte er hier kaum noch aufrechterhalten, weshalb die in diesen Jahren komponierten proletarischen Märsche wegen ihrer Spannung von Statik und Dynamik faszinieren. Möglicherweise ist die 1933 vollendete Komposition „Marsch und Variationen für zwei Klaviere“, rhythmisch stampfend und zugleich reich figurativ, überhaupt als sein bestes Werk anzusehen.
Obwohl Wolpe für verschiedene Besetzungen schrieb, hat er für das Klavier seine gelungensten Werke geschaffen. Nach frühem Klavierunterricht hatte ihm 1919 eine wohlhabende Berliner Jüdin ein Studio mit Bechsteinflügel zur Verfügung gestellt, was er für autodidaktische Studien nutzte. Stuckenschmidt lernte ihn als „phänomenalen Klavierspieler“ kennen, der mit explosivem Ausdruck Skrjabin-Sonaten und Bartóks Suite op. 14 interpretierte. Wie für Eisler war für Wolpe der Begriff des Stils irrelevant. Dass in seinem Oeuvre hochchromatische Kompositionen im Geiste Weberns neben einfachster Diatonik stehen, war ästhetisches und politisches Programm. Entsprach 1932/1933 die Diatonik in „Marsch und Variationen“ dem proletarischen Vitalismus, so führte ihn das Palästina-Exil zur Entdeckung modaler Skalen aus arabischen Traditionen. Mit seiner undogmatischen Integration verschiedener Tonsysteme war der dem Zionismus eher distanziert gegenüberstehende Wolpe verwandt mit Béla Bartók. Eine Verbindung von Zwölftönigkeit und modaler Diatonik findet sich in seinen in Palästina entstandenen Chören, aber auch im Ballett „The Man from Midian“ (1942), dem aufrüttelnden „Battle Piece“ für Klavier (1943) oder der „Yigdal“-Kantate (1945).
Obwohl es zwischen Hanns Eisler, Stefan Wolpe und Wladimir Vogel zahlreiche biographische Parallelen gibt – nach avantgardistischen Anfängen hatten sie sich der Arbeiterbewegung zugewandt, bevor sie ins Exil getrieben wurden –, gingen sich die drei Komponisten aus dem Wege. Dabei war Eisler anwesend (ebenso wie Marc Blitzstein und Artur Schnabel), als im Mai 1927 die drei „Stehenden Musiken“ gespielt wurden. Wolpe dürfte ihn um seine Erfolge in der Arbeitermusikbewegung beneidet haben und Vogel um dessen Zulassung zur Busoni-Klasse. Er selbst suchte andere Gruppen, nicht zuletzt die der abstrakt expressionistischen Maler Franz Kline, Willem de Kooning und Mark Rothko, mit denen er in New York engen Umgang pflegte. Im Bereich der Musik wurde er im Exil ein Einzelgänger, der – ähnlich isoliert wie Webern – keinerlei Rücksicht auf Interpreten oder Hörer nahm und sich vielmehr heroisch dem Markt verweigerte. Kompositionen wie seine „Enactments“ besitzen in ihren extremen Anforderungen an Spieler und Hörer durchaus utopischen Charakter und nehmen in ihrer Ereignisdichte die Musik Brian Ferneyhoughs vorweg. Die raison d’être der Form beschrieb der Komponist selbst so: „Unaufhörlich aufgerissen, geöffnet und aus sich selbst erneuert, in die Extreme der Gegensätze zusammengebracht zu werden.“ Und eine Folge von Studien beschrieb er als „Displaced Spaces, Shocks, Negations, A New Sort of Relationship in Space, Pattern, Tempo, Diversity of Actions, Interactions and Intensities“. Die Kunst brauchte er zur Selbstverwirklichung und zur Entdeckung seines Ichs. Seine Werke sind inzwischen dank der gemeinsamen Aktivität der Stefan Wolpe Society New York und des Peer-Musikverlages auf Noten und CDs gut zugänglich, was auch dem Wolpe-Zyklus der Berliner Festwochen zum 100. Geburtstag des Komponisten zugutekam. Gerade hier aber zeigte sich, dass man neben dem Hören auch die Analyse braucht, um einen Zugang zu den späteren Partituren zu finden.
Niemals ein Akademiker
Der am 25. August 1902 in Berlin geborene Stefan Wolpe hat das Gymnasium kurz vor dem Abitur verlassen und nur ein einziges Semester an der Berliner Musikhochschule studiert. Es ist deshalb eine merkwürdige Ironie, dass er bei den Darmstädter Ferienkursen, wo er 1956, 1960, 1961 und 1962 unterrichtete, als „akademisch“ abgelehnt wurde.
Obwohl Wolpe keineswegs orthodox komponierte, wirken seine Spätwerke ähnlich spekulativ-abstrakt wie die von Leopold Spinner, Nikos Skalkottas oder Wladimir Vogel. Die Ablehnung traf ihn tief, hatte er sich doch ab 1955 mit Plänen zur Rückkehr nach Deutschland befasst und dazu Briefkontakt mit alten Freunden wie Stuckenschmidt, Adorno und Vogel aufgenommen. Aber weder in Berlin, wo er fast ein Jahr mit einem Fulbright Stipendium lebte, noch in Darmstadt, wurde Wolpe stärker zur Kenntnis genommen. Da sich auch der sonst so aufgeschlossene Boris Blacher nicht für ihn einsetzen wollte, verzichtete er schweren Herzens auf seine Remigrationspläne und kehrte nach dem Bankrott des Black Mountain College/North Carolina, wo er von 1952-1956 gelehrt hatte, zum Privatunterricht zurück. Es liegt auch in der Tragik des Exils begründet, wenn der in Berlin und Palästina so starke Praxisbezug sich in den USA auf Komponieren und Unterrichten reduzierte. Wie sehr sich Wolpe weiterhin nach Aktion sehnte, geht aus seiner Weiterverwendung dieses Begriffes hervor. So sprach er in Parallele zur Aktionsmalerei von „musikalischem Aktionismus“ und bezeichnete 1957 einen Zyklus von vier Werken als „ein Konzept von Handeln, Erfinden und Erkennen“.
Anders als in Europa wurde Wolpe in New York zum begehrten und erfolgreichen Lehrer. Gestützt auf die Bauhaus-Tradition, auf den Dadaismus, den engen Kontakt zu Malern sowie seinen viermonatigen Unterricht bei Webern in Wien vermittelte er seine Ideen an Jazzmusiker wie George Russel und Tony Scott, an Rundfunk-, Fernseh- und Theaterpraktiker wie Stanley Applebaum, Elmer Bernstein sowie an Avantgardisten wie Herbert Brün, Morton Feldman, Ralph Shapey, David Tudor und Charles Wuorinen. Erst jetzt entfaltete sein Konzept einer stehenden Musik seine volle Wirkung. Nicht zuletzt Morton Feldman entwickelte diese Ideen weiter, wobei er sich ebenfalls an Konzepten der abstrakten Malerei orientierte. Wie Wladimir Vogel, der im Schweizer Exil einer jüngeren Generation seine Erfahrungen weitergab, hatte sich Wolpe erst im Exil zum wirkungsvollen Anreger und Mittler entwickelt, wobei auch für ihn das Unterrichten in den letzten Jahrzehnten fast noch größeres Gewicht erhielt als das Komponieren.